//Wirkt ABS auch bei Fahrrädern?

Wirkt ABS auch bei Fahrrädern?

Mit dem Einzug des Antiblockiersystems (ABS) in die Autos begann die Ära der Assistenzsysteme. Die Serienpremiere fand in der S-Klasse von Mercedes-Benz statt, das war im Jahr 1978. Dass eine Technologie zuverlässig das Blockieren der Räder bei zu starkem Bremsen verhindern kann und dadurch die Lenkbarkeit des Fahrzeugs erhalten bleibt, kam vor gut 45 Jahren einer Sensation gleich. „Ein unkontrolliertes Schleudern des Fahrzeugs nach einer Vollbremsung konnte damit in vielen Fällen vermieden werden, der Zugewinn an Sicherheit war von Anfang an unumstritten“, betont rückblickend Autozulieferer Bosch, der an der ABS-Entwicklung beteiligt war.

Die hilfreiche Bremsunterstützung blieb nicht allein Sache für überforderte Autofahrer. 1988 stellte BMW das erste Motorrad mit ABS vor, 1991 wurde der Blockierverhinderer zur Pflicht in Lastwagen und Bussen, und 2004 verpflichteten sich die Automobilhersteller zum ABS-Einbau in allen europäischen Modellen. Doch es sollte noch etliche Jahre dauern, bis das erste serienreife ABS für Fahrräder angeboten wurde. Es kam 2018 für E-Bikes mit Elektromotor, auch Pedelecs genannt. Was der Blockierverhinderer in der Praxis bewirken kann und wie sich das System auf das Fahrverhalten auswirkt, das haben nun erstmals Schweizer Wissenschaftler in Fahrversuchen mit E-Bikes und ABS-Technologie verschiedener Hersteller untersucht.

Zum Einsatz kamen Pedelecs (bis 25 km/h) und S-Pedelecs (bis 45 km/h), die mit hydraulischen Scheibenbremsen vorn und hinten ausgestattet sind. Untersucht wurden die Stärke der jeweiligen Bremsverzögerung, die Länge des Bremswegs und die Stabilität der Fahrräder bei einer Vollbremsung mit 30 km/h. Zum besseren Vergleich wurden E-Bikes mit und ohne ABS verwendet sowie mit und ohne Anhänger für Kinder. Die Versuche wurden auf trockenem, nassem oder überfrorenem Asphalt und von dem immer gleichen Fahrer durchgeführt, einem versierten Experten.

Das wichtigste Ergebnis der aufwendigen Testreihe: „Es zeigte sich, dass ein ABS das Abheben des Hinterrads verhindert und die Blockierung des Vorderrads reduziert“, resümieren die Wissenschaftler der Arbeitsgruppe für Unfallmechanik (AGU AG), eines Züricher Unternehmens, und der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU), einer staatlichen Stiftung mit Sitz in Bern. Das System erhöhe tatsächlich die Stabilität und reduziere die Sturzgefahr, lautet das Fazit. Allerdings, so mussten die Forscher auch feststellen, kann sich der Bremsweg eines Pedelecs durch das ABS in seltenen Fällen verlängern. Das liegt daran, dass der Bremsdruck ganz kurz zurückgenommen wird, um das Blockieren der Räder zu verhindern. Im Fahralltag wird dieser Nachteil den Sicherheitsgewinn kaum aufwiegen. Deutlich kürzer fällt dagegen der Bremsweg bei einem ABS-Pedelec aus, das mit einem Anhänger unterwegs ist.

Bemerkenswert ist darüber hinaus die Erkenntnis, dass die Radfahrer richtigen Umgang mit ABS erst lernen müssen. Ähnlich wie zu Beginn der ABS-Zeit bei den Pkw, als kurz nach dessen Einführung einige Fahrer auf einmal meinten, ohne Risiko losrasen zu können. Nun zeigt sich, dass Radler mit ABS oft abrupter in die Eisen gehen und zusätzlich mit einem höheren Tempo unterwegs sind. Die Folge: Es kommt häufiger zu kritischen Fahrsituationen.

Fahrfehler bei der Anwendung

Zudem ergaben die Untersuchungen, dass Pedelec-Fahrern gern nur die Hinterradbremse betätigen. Obwohl sie stärker verzögern würden, wenn sie gleichzeitig sowohl die Hinterrad- als auch die Vorderradbremse benutzten. Das Potenzial der Bremsen werde auf diese Weise „nicht ausgenutzt“, kommentieren die Schweizer Wissenschaftler das Phänomen. Das Forscherteam vermutet, dass die Fahrer „bei der Nutzung der Vorderradbremse zurückhaltender reagieren, da sie ein Blockieren des Vorderrads oder ein Abheben des Hinterrads, verbunden mit einer entsprechenden Sturzgefahr, befürchten“. Da stecken den Fahrern also möglicherweise noch die Erfahrungen mit den herkömmlichen Bremssystemen in den Knochen.

Verfügt ein Pedelec über ABS, kann der Fahrer ziemlich sicher sein, dass die Räder beim Bremsen nicht blockieren und das Risiko zu kippen geringer ausfällt. In den Schweizer Bremstests blockierten immerhin 65 Prozent der Vorderräder von E-Bikes ohne ABS, während die Blockierquote bei den ABS-Pedelecs lediglich 19 Prozent betrug, und dabei drehten sich die Räder bereits nach ganz kurzer Zeit wieder. Diese Blockierungen trotz ABS traten ausschließlich beim Übergang von trockenem zu rutschigem Untergrund auf, „wenn das System nachregeln muss“, wie die Wissenschaftler feststellten. Auch das sicherere Fahren mit ABS will also gelernt sein.

Beate M. Glaser (kb)
Foto: Bosch