//Müllers Kolumne: Vision Zero ins Gesetz!

Müllers Kolumne: Vision Zero ins Gesetz!

Neue Ziele im Verkehr, aber wofür? Das fragt sich unser Kolumnist Dieter Müller

Die Reform der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) ist nach einigem Hin und Her zwischen dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) und den im Bundesrat vertretenen 16 Ländern im Herbst 2024 in Kraft getreten. Neue Ziele wurden als Auslegungsprinzipien in das Straßenverkehrsgesetz (StVG) und nachfolgend in die Straßenverkehrsordnung (StVO) aufgenommen, aber das wichtigste Ziel fehlt: Die Vision Zero! Sie steht weiterhin nur als Handlungsmaxime für die Straßenverkehrsbehörde in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) zu § 1 StVO, nicht in der höherrangigen StVO und erst recht nicht im zentralen StVG. Aber genau dort gehört sie hin, damit sie nicht nur von der Straßenverkehrsbehörde, sondern zukünftig von allen drei Staatsgewalten beachtet werden muss. Vor dieser Konsequenz aber scheuen sich Bundestag, Bundesrat und das Bundesministerium für Verkehr bis heute. Warum nur?

Was ist die Vision Zero?

Die zuerst in Schweden entwickelte Vision Zero ist eine staatliche Strategie zur Erhöhung der Verkehrssicherheit auf den Straßen, die mit allen erreichbaren Mitteln das Ziel verfolgt, im Straßenverkehr keine Verkehrstoten und Schwerverletzten mehr zu haben. In diesem Sinne bedeutet diese Vision zunächst einmal eine ethische Vereinbarung der Gesellschaft, sozusagen ein Gesellschaftsvertrag im besten Sinne des bedeutenden deutschen Staatstheoretikers Samuel von Pufendorfs. Die Gesellschaft vereinbart – wie in einer mittelbaren Demokratie üblich – durch ihre Volksvertreter ein Staatsprinzip, für das es sich einzusetzen lohnt. Der Einsatz ist das strategische Ziel, der Lohn sind weniger Verkehrstote und Schwerverletzte. So die Theorie.
I. Die neuen Ziele im Straßenverkehrsrecht
Alle bevorstehenden Änderungen in der StVO und alle konkreten Handlungen der Straßenverkehrsbehörden müssen seit Oktober 2024 nun zwingend die nachfolgenden Ziele berücksichtigen.
Die Frage, ob nun auch alle bereits in Deutschland bestehenden Verkehrsregelungen an den neuen Maßstäben zu messen und im Nachhinein zu überprüfen sind, sollte zwar klar mit einem „Ja!“ beantwortet werden, dürfte aber die im System des Verkehrsrechts wichtigsten Verkehrsbehörden hinsichtlich des erforderlichen Monitorings ihres Straßen- und Wegenetzes vor große Aufgaben stellen, die nicht kostenneutral und vor allem nicht ohne neues Personal erledigt werden können. Genau dafür gibt aber der Bund kein Geld. Also wird die Kontrollaufgabe de facto zumeist unterbleiben. Nur reiche Kommunen könnten sich diesen Sicherheitsfortschritt leisten und sie sollten es auch tun, um als Leuchttürme zu wirken.

Ziel 1: Sicherheit des Straßenverkehrs

Nach § 6 Abs. 4a StVG und § 45 Abs. 1 Nr. 7 StVO dürfen Verkehrsregelungen „die Sicherheit des Verkehrs nicht beeinträchtigen“.
Das Ziel, die Verkehrssicherheit zu gewährleisten, findet seinen Ursprung in der staatlichen Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG), das Leben und die körperliche Unversehrtheit der in Deutschland lebenden Menschen umfassend zu schützen. Bekanntlich binden die Grundrechte gem. Art. 1 Abs. 3 GG die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Die Neuregelung verlangt durch den Wortlaut „nicht beeinträchtigen“ nicht mehr und nicht weniger als eine kritische Überprüfung des Status quo in jedem Landkreis, jeder kreisfreien Stadt und jeder Kommune hinsichtlich der vorhandenen Regelungsreserven für die Verkehrssicherheit. Bestehende Regelungen müssen unter diesem Gesichtspunkt gegebenenfalls. verändert werden und Neuregelungen müssen dieses Ziel fördern.

Ziel 2: Leichtigkeit des Straßenverkehrs

§ 6 Abs. 4a StVG und § 45 Abs. 1 Nr. 7 StVO fordern, dass Verkehrsregelungen „die Leichtigkeit des Verkehrs berücksichtigen“ müssen.
Unter dieser Prämisse ist die Verträglichkeit des Verkehrsflusses im Zusammenspiel des fließenden Verkehrs aller Verkehrsarten, also des Fußverkehrs, des nichtmotorisierten Fahrzeugverkehrs und des motorisierten Fahrzeugverkehrs kritisch zu überprüfen, wobei dieses Ziel dem Wortlaut „berücksichtigen müssen“ nachfolgend gegenüber dem Ziel der Sicherheit des Straßenverkehrs nachrangig ist. Es ist demnach eine ständige Aufgabe der Straßenverkehrsbehörde, durch ihre bestehenden und neu zu treffenden Anordnungen den Verkehrsfluss nicht übermäßig zu beeinträchtigen. Da jedoch ein bevorteilter Verkehrsfluss der einen Verkehrsart (zum Beispiel Automobilverkehr) einen Nachteil für alle anderen Verkehrsarten (zum Beispiel Rad- und Fußverkehr) bedeuten würde, ist die Leichtigkeit des Straßenverkehrs als eine Maßgabe für eine im wahrsten Wortsinn gerechte Abwägung der verschiedenen Verkehrsflüsse zu verstehen. Ein solcher Abwägungsprozess funktioniert nur dann „gerecht“, wenn die betroffenen Gruppen von Verkehrsteilnehmern ständig beteiligt werden, zum Biespiel durch einen ständigen „Runden Tisch Verkehrssicherheit“ in jeder Kommune.
Leichtigkeit bedeutet aber auch „Erleichterung des Straßenverkehrs“ für benachteiligte Gruppen wie Menschen mit Behinderungen, Kinder und ältere Menschen, die zwar durch § 3 Abs. 2a StVO schon besonders geschützt sind, aber deren Schutz im Verkehrsalltag der Kommunen noch nicht optimiert wurde. Diese Aufgabe steht nun den Kommunen bevor.
Die drei nachfolgend genannten Ziele sind gegenüber den beiden vorgenannten Zielen nachrangig, was am Verbindlichkeitsgrad des Wortlauts deutlich wird.

Ziel 3: Umweltschutz und Klimaschutz

§ 6 Abs. 4a StVG und § 45 Abs. 1 Nr. 7 StVO erlauben nunmehr Verkehrsregelungen „zur Verbesserung des Schutzes der Umwelt, darunter des Klimaschutzes“.
Diese Zielsetzung ermöglicht z. B. Einschränkungen des motorisierten Verkehrs mit Kraftfahrzeugen mit Verbrennungsmotoren überall dort im Verkehrsraum, wo der Schutz der Umwelt und der Klimaschutz besonders im Vordergrund stehen.

Ziel 4: Gesundheitsschutz

§ 6 Abs. 4a StVG und § 45 Abs. 1 Nr. 7 StVO erlauben auch Verkehrsregelungen „zum Schutz der Gesundheit“.
Durch dieses Ziel ist insbesondere der Schutz vor den schädlichen Auswirkungen der Immissionen durch Abgase und Lärm angesprochen, sodass vereinfachte Reduzierungen des motorisierten Verkehrs und deren Verweisung auf besonders geeignete Teile des Straßennetzes möglich sind.

Ziel 5: Städtebauliche Entwicklung

§ 6 Abs. 4a StVG und § 45 Abs. 1 Nr. 7 StVO erlauben ferner Verkehrsregelungen „zur Unterstützung der städtebaulichen Entwicklung“.
Dadurch könnten Kommunen die Lebensqualität ihrer Bewohner erhöhen und mit den Mitteln der Verkehrswegeplanung ihre Randgebiete besser an die zentralen Einrichtungen anbinden, was zum Beispiel durch eine Bevorzugung des straßengebundenen ÖPNV gegenüber dem Individualverkehr umgesetzt werden könnte.

Fazit: Bundesrat fordert „Vision Zero“

Der Bundesgesetzgeber stellte zu den neu verankerten Zielen vor der Einigung mit der Länderkammer fest: „Diese Ziele stehen gleichberechtigt neben den Zielen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs.“ (Drucksache des Bundesrates 381/23, S. 3)
Nachdem der Kompromiss gefunden und gesetzlich verankert war, ist klar, dass die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs gegenüber Umweltschutz, Klimaschutz, Gesundheitsschutz und städtebaulicher Entwicklung vorrangige Ziele sind und die Sicherheit den ersten Rang unter allen Zielen einnimmt.
In einer begleitenden Entschließung zum Erlass der renovierten StVO stellte der Bundesrat unter anderem fest, dass die Vision Zero, wonach niemand durch Verkehrsunfälle getötet oder schwer verletzt werden soll, bislang in der Straßenverkehrsordnung nicht expressis verbis verankert ist. Er bat noch die alte Bundesregierung, dieses Prinzip ausdrücklich in die StVO aufzunehmen, um das übergeordnete Ziel der Verkehrssicherheit als maßgeblichen Leitgedanken stärker hervorzuheben. Die Länderkammer regte an, Vision Zero in der StVO als Leitbild zu etablieren (Drucksache des Bundesrates 321/24 (Beschluss), S. 9): „Die ergänzende Aufnahme und Definition der Vision Zero in § 1 StVO würde zu mehr Klarheit und einer stärkeren Fokussierung für die verkehrsbehördliche Praxis führen.“

Umgesetzt werden soll die Vereinbarkeit aller neuen und alten Ziele miteinander durch klare Regelungen in der VwV-StVO, die in ihren unmittelbaren Verpflichtungen somit auch auf alle anderen Verkehrsbehörden neben der immer noch zentralen Straßenverkehrsbehörde, also zum Beispiel auf die Straßenbaubehörde und die Polizei, erstreckt werden müsste.
Auch einige nichtstaatliche Organisationen fordern vehement die Einführung von Vision Zero. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) und die Deutsche Verkehrswacht (DVW) gehen sogar noch einen Schritt weiter als der Bundesrat und fordern unisono die Verankerung der Vision Zero im StVG. Das ist die einzig richtige Lösung, um alle drei Staatsgewalten zu binden. Auch die DEKRA räumt der Vision Zero einen hohen Stellenwert ein und vergibt seit 2016 einen entsprechenden Preis an erfolgreiche Kommunen, die in drei aufeinanderfolgenden Jahren keine Verkehrstoten zu beklagen hatten.
Die alte Bundesregierung und der alte Bundestag hatten nicht die politische Kraft und auch nicht den Mut für eine höherrangige und konsequentere verkehrsrechtliche Verankerung der Vision Zero. Nun hat die Verkehrspolitik eine neue Chance. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von CDU/CSU-SPD steht zu lesen (S. 26, Rn. 841): „Im Straßenverkehr orientieren wir uns am Zielbild der Vision Zero.“
Es wird Zeit, dass dieses Ziel verkehrsrechtlich untermauert wird, damit konkrete Taten folgen können!

Weiterführende Links

Gesetzentwurf der Bundesregierung zum StVG
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VwV-StVO
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§ 6 StVG
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§ 45 StVO
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Forderung DVR und DVW
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DEKRA-Award Vision Zero
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Entschließung des Bundesrates
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Koalitionsvertrag
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.

Foto: Bundesrat