//Müllers Kolumne: Cannabis-Experten irren sich

Müllers Kolumne: Cannabis-Experten irren sich

„Unabhängige Expertenkommission“ schlägt Bundestag neuen THC-Grenzwert vor

Die vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) im Dezember 2023 eingerichtete und personell interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppe tagte mit Mitgliedern aus den Bereichen Medizin, Recht, Verkehr und Polizei. Am 28. März legte sie als Ergebnis ihrer Beratungen eine Empfehlung fest, den aktuellen Grenzwert des Wirkstoffes Tetrahydrocannabinol (THC) im Blutserum von Kraftfahrzeugführern von aktuell 1 ng/ml auf 3,5 ng/ml zu erhöhen. Dieser Grenzwert soll demnach vom Gesetzgeber im Straßenverkehrsgesetz (StVG) gesetzlich verankert werden. Der Weg zu dem Vorschlag dieses Grenzwerts ist rechtsstaatlich bedenklich und leistet der Erhöhung von Gefahren für die Verkehrssicherheit Vorschub.

Alles andere als „unabhängig“

Die bereits seit mehr als 20 Jahren bestehende und ehemals zum Zweck des Bestimmens von Drogengrenzwerten im Blutserum von Kraftfahrzeugführern vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte Grenzwertkommission konnte sich nicht auf eine Anhebung des bestehenden Grenzwertes für THC im Blutserum einigen, weil ihrer Ansicht nach die eindeutige Evidenz fehlte.
Aufgrund dieser wissenschaftlichen Pattsituation setzte Bundesverkehrsminister Volker Wissing eine neue Kommission ein, die er als „unabhängig“ bezeichnete und die mit vom BMDV ausgewählten „Experten“ besetzt werden sollte. Aus der bestehenden Grenzwertkommission war Prof. Stefan Tönnes, der derzeitige Vorsitzende der Grenzwertkommission, in der neuen Kommission beratend tätig. Er hatte bereits vor Einsetzen der neuen Kommission öffentlich eine Anhebung des Grenzwertes auf den nun festgelegten Wert empfohlen.
Da die genau zu diesem Zweck der Empfehlung von Grenzwerten bereits bestehende Grenzwertkommission wurde mit diesem Schritt übergangen. Es liegt die Vermutung nahe, dass das BMDV sich neue Fachleute zu Rate zog, die das politisch erwünschte Ergebnis der Empfehlung einer Anhebung des bestehenden Grenzwertes erbringen würden. Dieser Wunsch ist nun von der keineswegs „unabhängigen“, sondern politisch handverlesenen Kommission erfüllt worden.
Einzige sichtbare Gegenstimme in der Kommission war der Vertreter der Verkehrspolizei, der sich öffentlich gegen die von vornherein beabsichtigte Anhebung aussprach. Dessen Gutachten wurde immerhin auf der Website des BMDV verlinkt, direkt neben jenem Gutachten, das den politischen Auftrag zur Anhebung bestätigt.

Nur in Teilen „Experten“

Die Zusammensetzung der „Expertenkommission“ weist nur teilweise eine Expertise für die Empfehlung von Grenzwerten im Blutserum von Kraftfahrzeugführern auf, die sich auf die Fahrsicherheit der Kraftfahrzeugführer negativ auswirken können. In der Kommission ist nur ein Toxikologe und weder ein Rechtsmediziner, noch ein Verkehrsmediziner vertreten. Die ursprüngliche Grenzwertkommission besteht bis auf ein Mitglied ausschließlich aus Vertretern dieser drei Fachrichtungen. Was ein Jurist und ein Polizeibeamter als Fachexpertise hinsichtlich der zu ermittelnden Höhe des Grenzwertes einbringen konnten, ist ohnehin fraglich.
Der Verfasser dieser Kolumne ist selbst von Beruf ausgebildeter Polizist, promovierter Volljurist und seit 1995 als Verkehrsjurist tätig, besitzt also weder medizinisches, noch toxikologisches oder verkehrspsychologisches Erfahrungswissen. Dennoch sehe ich es als äußerst kritisch an, dass genau die für die Beurteilung von Grenzwerten im Straßenverkehr entscheidenden fachlichen Professionen in der neuen Kommission bis auf einen Fachmann von sieben Mitgliedern nicht vertreten waren.
Den fachlichen Stempel einer „Expertenkommission“ trägt die neue Kommission daher nicht.

Der neue THC-Grenzwert in der fachlichen Kritik

Die Kommission behauptet, der neu vorgeschlagene Grenzwert von 3,5 ng/ml THC im Blutserum sei mit einem einer Blutalkoholkonzentration von 0,2 Promille vergleichbar. Für einen solchen Vergleich existiert in Deutschland aktuell keine wissenschaftliche Studie.
Die Kommission behauptet ferner, bei Werten unterhalb von 3,5 ng/ml THC im Blutserum könne es nicht zu verkehrssicherheitsrelevanten Einschränkungen kommen. Auch diese Behauptung erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht unbestritten; denn es existiert in der veröffentlichten Fachliteratur kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Höhe des THC-Wertes im Blutserum und dem Risiko für die Verkehrssicherheit. Die eindeutige und wissenschaftlich unterlegte Gegenmeinung der fachlich deutlich besser ausgewiesenen Experten der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) mit der Empfehlung, den bestehenden Grenzwert unangetastet zu lassen, wurde von der neuen Kommission ersichtlich nicht erwogen.

Die Verankerung des politisch erwünschten Grenzwertes soll zudem direkt im Straßenverkehrsgesetz (StVG) erfolgen. Das StVG beinhaltet jedoch in seinem Anhang zur einschlägigen Vorschrift des § 24a Abs. 2 StVG bislang keinen einzigen Grenzwert. Vielmehr sind die aktuellen Grenzwerte, bei denen es sich allesamt um analytische und gerade nicht um Wirkungsgrenzwerte handelt, deren Ziel der sichere Nachweis des betreffenden Stoffes im Blutserum ist, bislang ausschließlich im Bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog für Verkehrsordnungswidrigkeiten, einer Verwaltungsvorschrift, festgeschrieben.
Der Deutsche Bundestag würde mit der gesetzlichen Verankerung eines isolierten Grenzwertes für THC also einen Systemwechsel vornehmen und es ist aus systematischen Gründen schlicht unverständlich, warum nicht für die andere im Straßenverkehr häufig festgestellten Betäubungsmittel keine gesetzlichen Grenzwerte verankert werden. Drogenkonsumenten von Heroin, Kokain und Methamphetamin (Crystal) könnten sich daher mit guter Begründung aus dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung und des Willkürverbots zukünftig vor den Gerichten darauf berufen, ebenfalls einen Grenzwert für die von ihnen konsumierte Droge im StVG verankert zu erhalten unter dessen Vorliegen sie dann nicht sanktioniert werden dürften.

Folgen und Fazit

In einer in der Zeitschrift BLUTALKOHOL (herausgegeben vom Bund gegen Alkohol und Drogen im Straßenverkehr e. V.) im September 2023 veröffentlichten Untersuchung stellten die beteiligten Verkehrsforscher im Rahmen der von ihnen untersuchten 643 medizinisch-psychologischen Gutachten (MPU) fest, dass die Konsumenten von Cannabis deutliche Hinweise auf eine Drogenproblematik aufwiesen, und zwar gleichgültig, ob sie bei ihren polizeilich festgestellten Taten gemäß § 24a Abs. 2 StVG einen Wert unterhalb von 3 ng/ml THC im Blutserum oder einen Wert darüber aufwiesen. Bekanntlich müssen derzeit alle Kraftfahrzeugführer, die gelegentlich (mindestens zweimal in einem engen zeitlichen Zusammenhang) Cannabis konsumieren und bei einer Fahrt mit 1 ng/ml THC im Blutserum festgestellt wurden, verpflichtend eine MPU absolvieren und bestehen, um ihre Fahrerlaubnis zu behalten.

Aufgrund einer weiteren im Januar 2024 in der Zeitschrift „Die POLIZEI“ (Carl Heymanns Verlag, Köln) veröffentlichten Studie des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Leipzig, die sich auf mehr als 4.000 unter der Wirkung von THC im Straßenverkehr festgestellten Kraftfahrzeugführer stützen konnte, hätte eine Anhebung des bestehenden Grenzwertes auf 3,5 ng/ml Blutserum für 36,4 Prozent der Kraftfahrzeugführer eine Sanktionsfreiheit bedeutet. Das heißt, sie wären keine Täter des § 24a Abs. 2 StVG gewesen, hätten kein Bußgeld in Höhe von. 500 Euro bezahlen müssen, hätten kein Fahrverbot von einem Monat erhalten und keine zwei Punkte im Fahreignungsregister eingetragen erhalten. Sie wären überdies nicht der Fahrerlaubnisbehörde gemeldet worden, sodass sie keine medizinisch-psychologische Untersuchung zu befürchten gehabt hätten. Dadurch würden sie zukünftig „unter dem Radar“ des Gefahrenabwehrrechts verbleiben.

Dieser unbestrittene Vorzug käme nahezu ausschließlich Gelegenheitskonsumenten zugute, die ab und zu Cannabis konsumieren. Gerade die Gruppe der Gelegenheitskonsumenten stellt jedoch einen großen Risikofaktor im Straßenverkehr dar, weil diese Gruppe die Wirkung von Cannabis auf ihren Körper nicht so gut einschätzen kann wie es Dauerkonsumenten können, die nahezu täglich Cannabis konsumieren. Gelegenheitskonsumenten riskieren mehr als Dauerkonsumenten. Sie versuchen sich an einem Glücksspiel; denn sie berechnen nach ihrem Konsum von Cannabis, dessen THC-Gehalt sie übrigens mangels einer Qualitätsanalyse des erworbenen und konsumierten Rauschgiftes überhaupt nicht kennen, nur überschlägig, wie lange das THC in ihrem Blutserum wohl noch vorhanden sei. Manchmal verrechnen sie sich dabei, was bei der äußerst geringen polizeilichen Kontrolldichte bedeuten würde, dass ihr gefährliches Rechenexempel zu Lasten der Verkehrssicherheit gehen würden. Denn eines ist sicher: Alle Kraftfahrzeugführer, die 1 ng/ml THC und mehr im Blutserum vorweisen, haben allesamt in der Zeit vor Fahrtantritt das Betäubungsmittel Cannabis bewusst konsumiert, um sich zu berauschen. Das ist der große Unterschied zum Alkohol, der von den meisten Bürgern als Genussmittel konsumiert wird und nur von wenigen, um sich bewusst zu berauschen.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages würden gut daran tun, der voreingenommenen Empfehlung der neuen Kommission nicht zu folgen.

Weiterführende Links

Vorschrift des § 24a StVG
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Pressemitteilung des BMDV
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Stellungnahme von DGVM und DGVP
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Bestehende Grenzwertkommission
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Bundeseinheitlicher Tatbestandskatalog
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.

Foto: Pfüderi/Pixabay