Was für ein Klotz! Würden Umfang (560 Seiten) und Gewicht (1.790 Gramm) Wert und Wichtigkeit eines Sachbuches bestimmen, das vorliegende Werk von Peter Kirchberg läge im Ranking ganz weit vorne. Doch es sind in der Tat nicht die schieren Dimensionen, die hier überwältigen, sondern die Fülle von akribisch zusammengetragenen Details und zahlreichen eher unbekannten und damit überraschenden Abbildungen, die das Buch zu einer wertvollen Lektüre machen. Denn entstanden ist trotz der Datenfülle weder ein dröges Lexikon noch ein beliebiges „Ach-ja-da-war-doch-was-Potpourri“; stattdessen locken die einzelnen Kapitel zu stets neuem blättern und stöbern in der Historie des Automobils. Man schlägt eine beliebige Seite auf – und bleibt fasziniert vom Text hängen.
Überraschende Zusammenhänge zeigt Kirchberg dabei auf. So sei als ein kleines Beispiel der Einfluss der Inflation um 1923 genannt, die Dank sinkender Arbeitslöhne bei den Automobilherstellern zu immer komplexeren Konstruktionen oder in-House-Fertigung von bislang zugekauften Aggregaten führte. Das Buch steckt voll solch überraschender Einblicke und blättert damit weit mehr auf, als der Untertitel „Die Motorisierungswellen bis 1939“ verspricht. Es lässt sich auch als ein gesellschaftliches Kaleidoskop betrachten, das wirtschaftliche Aspekte der damaligen Zeit auffächert.
Der Autor, seit gut sechs Jahrzehnten automobilhistorisch unterwegs, beschreibt im Vorwort sehr anschaulich, wie die Grundlage seines Werks entstand: Als Jung-Assistent an der TH Dresden hatte er das Drehbuch für das neue Motorradmuseum Augustusburg zu schreiben – und keine Ahnung. Mühsam kämpfte er sich durch „einen Urwald von Literatur, um wenigstens etwas zum Sachgebiet gesichert wissen und aussagen zu können.“ Diese Erkenntnis und die Erfahrung aus einigen Jahrzehnten Lehrtätigkeit an der Dresdner Hochschule für Verkehrswesen ermutigten ihn, jenes Wissenskompendium zu verfassen, das er nun veröffentlicht hat.
Kirchberg blättert lebendig und ohne Pathos die Automobilgeschichte von ihren Anfängen bis zum gewaltigen Einschnitt durch den Zweiten Weltkrieg auf. Die so vermittelten Grundzüge der Entwicklung geben einen Ein- und Überblick in die komplexen Prozesse der Motorisierung. Denn ähnlich wie es als junger Mann erlebte, der ohne theoretisches oder praktisches Rüstzeug eine Mammut-Aufgabe zu bewältigen hatte, ging es der jungen, aufstrebenden Automobilindustrie: Es gab keine Erfahrungen mit Motoren, Getrieben und Achsen, keine bekannten Vergaser oder Einspritzpumpen, die man übernehmen konnte. Damals lernten die Techniker und Tüftler, wie man Autos konstruiert, um schließlich auch deren Verkauf zu gewährleisten. Offen war auch, ob Dampf, Brennstoffe oder elektrischer Strom die beste Energiequelle sind.
Das schafft eine unerwartete Brücke in die Gegenwart. Heute erschließen sich dem Leser verblüffende Parallelen zu aktuellen Diskussionen im Umfeld der Mobilitätswende. Wer mehr sucht als nur Argumente zur Erlangung der Stammtischhoheit für erregte Debatten zu E-Auto, Tempolimit, Abgasproblematik oder Versorgungslücken, wird bei Kirchberg fündig. Ein rundum gelungenes Werk – nicht nur für Autofreaks.
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Peter Kirchberg: Automobilgeschichte in Deutschland, 560 Seiten, Festeinband, Georg Olms Verlag, ISBN978-3-487-08642-2, Preis 48,00 €