//Müllers Kolumne: Eingepreist

Müllers Kolumne: Eingepreist

Jeder kennt die folgende Maxime von Pkw-Fahrern: „Wenn ich fahre, rechne ich zu der erlaubten Geschwindigkeit 20 km/h hinzu und fahre, wo es nur geht, mit dieser Geschwindigkeit.“
Das ist die „20+-Regel“, die de facto zweierlei bedeutet. Erstens bedeutet die Regel, sich – bußgeldrechtlich gesehen – „nur“ im Bereich eines Verwarnungsgeldes zu bewegen und zweitens, entsprechende Verwarnungsgelder in Kauf zu nehmen. Es findet also im Kopf eine mathematische Berechnung statt, die eine geringe Überwachungsdichte und möglicherweise entstehende Verwarnungsgelder in den eigenen Fahrstil einkalkuliert. Bekanntlich beträgt das Verwarnungsgeld nach dem aktuell wieder gültigen „alten“ Bußgeldkatalog (BKat) für Geschwindigkeitsüberschreitungen von 16 bis 20 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften lediglich 35 Euro und außerhalb geschlossener Ortschaften sogar nur 30 Euro.

Bewertung des Fahrstils

Dieser Fahrstil lässt also bewusst – der Jurist spricht in einem solchen Fall von „Vorsatz“ – geltendes Verkehrsrecht außer Acht und setzt sich darüber hinweg. Unser Bußgeldrecht „belohnt“ ein solches Verhalten sogar mit dem aus § 1 Abs. 2 Satz 2 der Bußgeldkatalog-Verordnung (BKatV) direkt ablesbaren Grundsatz, dass der BKat von fahrlässiger Begehung ausgeht. Da vorsätzliches Handeln im Regelfall nachgewiesen werden muss (nur eine Überschreitung um 40 Prozent und mehr wird außerorts als generell vorsätzliches Handeln angesehen), verbleibt es bei einem Regelsatz für Fahrlässigkeit. Bei nachgewiesenem Vorsatz wird das sonst fällige Bußgeld in der Regel verdoppelt.

Eingepreiste Unfallgefahren

Dieses persönlich motivierte und geschlechterunabhängig angewandte System ist gleich in mehrerlei Hinsicht bedenklich. Unbedenklich ist allerdings die fahrphysikalische Betrachtung, die seit dem Unterrichtsstoff der Klassenstufe 8 jedem Schüler bekannt sein dürfte und zu dem Ergebnis führt, dass bei zulässigen 50 km/h eine Erhöhung der Geschwindigkeit um 20 km/h zu einem 30 Meter längeren Anhalteweg führt. Diese Verlängerung entscheidet oft über Leben und Tod.
Der wichtigste Aspekt gilt demnach der Verkehrssicherheit – wobei sich die meisten Verkehrsunfälle mit Personenschaden innerhalb geschlossener Ortschaften (im Jahr 2019: 69,2 Prozent) ereignen und auf Außerortsstraßen dabei jedoch 57,7 Prozent der Verkehrsunfallopfer ums Leben kamen. Wer andere Menschen verletzt oder gar tötet und dies durch eine normgerechte Wahl der Geschwindigkeit hätte verhindern können, macht sich erstens strafbar (§ 222 StGB Fahrlässige Tötung oder § 229 StGB Fahrlässige Körperverletzung) und wird zweitens seines Lebens nicht mehr froh, wenn er für den Tod eines Mitmenschen ein Leben lang moralisch verantwortlich ist.

Geringe Überwachungsdichte

Die Überwachung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit obliegt in allen Bundesländern gemeinsam der Polizei und den Kommunen. Wo es eine Zusammenarbeit gibt und diese gut funktioniert, spricht man sich regelmäßig über die Standorte der mobilen Kontrollen ab. Wo jeder nur an seine eigene Organisation denkt, arbeitet man unabgestimmt nebeneinander her.

Findet eine systematische Überwachung statt, gleicht man deren Resultate mindestens jährlich mit der Unfallbilanz der geschwindigkeitsinduzierten Verkehrsunfälle ab. Wo eine solche systematische Arbeit nicht stattfindet, blitzt man so vor sich hin und orientiert sich im schlimmsten Fall sogar an sachlich fragwürdigen Wünschen von Haushaltsreferaten.
Die eingesetzte Überwachungstechnik ist vielfach in die Jahre gekommen und bedarf generell einer aktuellen Wartung, Eichung und eines Austauschs von Messtechnik und Fototechnik. Das Überwachungspersonal bedarf jährlicher Schulungen, um erstens auf dem aktuellen Stand der Rechtsprechung zu bleiben und zweitens taktisch dort zu arbeiten, wo der größtmögliche Gewinn für die Verkehrssicherheit zu verzeichnen ist. Das sind nur selten die Standorte, die das meiste Bußgeld generieren, sondern vielmehr diejenigen, an denen die gefährlichsten Fahrer mit den höchsten Geschwindigkeitsverstößen entdeckt werden, was an Punkten und Fahrverboten leicht erkannt werden kann. Die „bequemen“ Überwachungszeiten vieler Kommunen von Montag bis Freitag in Tagesschichten und an allgemein bekannten Orten sind berechenbar und überraschen keinen Schnellfahrer mehr.

Hinzu tritt noch ein weiterer relativierender und allgemeiner Fakt. Kraftfahrern werden neben der zwingend zu gewährenden Messfehlertoleranz (3 km/h innerorts und 3 Prozent außerorts) in nahezu allen Bundesländern weitere Opportunitätstoleranzen zugebilligt. So messen viele Messgeräte erst ab einem Verstoß von 11 km/h, sodass faktisch ein Geschwindigkeitsniveau von 60 km/h geduldet wird. Zusätzlich wird in dem meisten Richtlinien der Bundesländer eine „Ausrollzone“ gewährt, innerhalb derer in den 150 Metern nach einem Verkehrszeichen die Geschwindigkeit in aller Regel nicht gemessen werden darf. Das wissen inzwischen alle Kraftfahrer und richten ihr Fahrverhalten darauf ein.

Harmloses Sanktionsniveau

Für einen Geschwindigkeitsverstoß von 20 km/h werden in anderen europäischen Staaten die folgenden Sanktionen fällig:

Staat Sanktion in Euro
Belgien Ab 115
Dänemark Ab 135
Finnland 200
Frankreich Ab 135
Großbritannien Bis 1.170
Luxemburg Ab 50
Niederlande Ab 170
Österreich Ab 30
Schweden Ab 230
Schweiz Ab 170

Quelle: ADAC

Deutschland rangiert ersichtlich im untersten Bereich der möglichen finanziellen Sanktionen. Dieser Fakt ist seit vielen Jahren allgemein bekannt und berücksichtigt seit Jahrzehnten nicht einmal die Entwicklung einfachster Kostenindizes wie den Anstieg der Bruttolöhne und der Inflationsrate. Von Jahr zu Jahr tut also eine Sanktion dem „erwischten“ Geschwindigkeitstäter (ja, er ist ein „Täter“ im Sinne des Rechts) weniger weh. Verantwortlich für diese ungesunde Entwicklung sind das Bundesministerium für Verkehr sowie die 16 Bundesländer, die gemeinsam das Sanktionsniveau festlegen.
Übrigens werden selbst exorbitante Geschwindigkeitsverstöße fast nie von der Polizei oder der Bußgeldbehörde an die Fahrerlaubnisbehörde gemeldet, obwohl in Fällen von Überschreitungen von 80 km/h und mehr regelmäßig eine medizinisch-psychologische Untersuchung wegen des Verdachts charakterlicher Ungeeignetheit angeordnet werden könnte (Rechtsgrundlage dafür ist § 11 Abs. 3 Nr. 4 der Fahrerlaubnis-Verordnung).

Fazit

Solange Geschwindigkeitsverstöße auf deutschen Straßen allgemein vom Verordnungsgeber, dem Überwachungspersonal und vor allem von den Kraftfahrern auch weiterhin als „Kavaliersdelikte“ angesehen werden, wird sich nichts ändern.
Verstöße sollten ab 4 km/h konsequent verfolgt und geahndet werden.
Für eine sicherheitsrelevante Änderung des Systems müssten Punkte bereits bei Verstößen ab 11 km/h eingetragen werden und Verwarnungsgelder dürfte es ab diesem Wert zugunsten von Bußgeldern, die jährlich an die Bruttolohnentwicklung angepasst werden, nicht mehr geben.
Die Verkehrssicherheit wird mit großer Wahrscheinlichkeit steigen, Menschen werden nicht so schwer verletzt und viele Menschen können weiterleben. Davon profitieren übrigens auch die schnellen Kraftfahrer selbst. Sie fahren entspannter und auch bei ihren Verwandten sinkt die Wahrscheinlichkeit, irgendwann einmal als Unfallopfer zu enden.

Weiterführende Links:
Bußgeldkatalog: hier klicken
Deutsches Statistisches Bundesamt – Verkehrsunfälle 2019: hier klicken
Berechnung Bremsweg: hier klicken
Bußgeldrechner: hier klicken

Foto: Efes/Pixabay

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.