//Müllers Kolumne: Amokfahrt

Müllers Kolumne: Amokfahrt

Ein Horrorszenario: Ein Autofahrer benutzt sein Auto wie eine Waffe, um möglichst viele Menschen zu töten und zu verletzen. Aktuelle Realität im Dezember 2020 und geschehen in Trier am Nachmittag des 1. Dezember. Vorläufige Schreckensbilanz: fünf Menschen wurden getötet und 24 Menschen verletzt, einige davon schwer.

Ein solches Tatgeschehen kann und darf nicht nur trocken juristisch betrachtet, sondern muss aus Opfersicht interpretiert werden, und zwar auch genau deshalb, um auf die jederzeit zu erwartenden ähnlichen (Un-)Taten reagieren zu können.

Wieder einmal gibt es eine Duplizität der Ereignisse. Im Advent 2016 kam es zu einer Amokfahrt auf dem Berliner Breitscheidplatz, in deren Verlauf 12 Menschen getötet und zahlreiche Menschen verletzt wurden. Der Deutsche Bundestag hatte am 1.3.2018 einen Untersuchungsausschuss zur als „Terroranschlag“ qualifizierten Straftat eingesetzt, der am 10.12.2020 seine 113. Sitzung absolvieren wird.

Ein Unterschied zwischen einer „Amokfahrt“ und einem mittels eines Kraftfahrzeugs durchgeführten „Terroranschlags“ besteht aus Opfersicht nicht – lediglich die Motivation der Täter unterscheidet sich. Auch aus polizeilicher Sicht bestehen nur marginale Unterschiede. Regelmäßig wird die Polizei erst aufgrund zahlreich eingehender Notrufe auf eine Amokfahrt aufmerksam und muss ad hoc darauf reagieren, indem möglichst schnell Einsatzkräfte herangeführt werden, um das akute Problem irgendwie zu lösen. So aktuell geschehen in Trier, wo die herbeieilenden Polizeibeamten den Amokfahrer vier Minuten nach Beginn dieser Straftat stoppen und festnehmen konnten.
Vier Minuten zu spät? Aus Opfersicht ein ganz klares: Ja! Bei realistischer Betrachtung ein ebenso klares: Nein!

Amok gleich Amok?

Warum können Amokfahrten nicht verhindert werden? Oder gibt es Signale, die ein Amoktäter vorher bewusst oder unbewusst sendet und an Hand derer eine bevorstehende Amoktat eventuell sogar frühzeitig erkannt und verhindert werden könnte?
Gegenüber den bekannten und vielfach international wissenschaftlich untersuchten Amokläufen an Schulen, von denen der Amoklauf in Erfurt im Jahr 2002 erstmals große mediale Aufmerksamkeit in Deutschland erreichte, existiert zu Amokfahrten mit Kraftfahrzeugen aktuell überhaupt kein Erkenntnisstand in der Forschung. Noch immer werden diese Ereignisse aus dem Straßenverkehr als schicksalhaft angesehen, quasi Naturkatastrophen gleich, aber das sind sie nicht. Amokläufe mit Schusswaffen und Amokfahrten mit Kraftfahrzeugen haben eine Schnittmenge: Es sind die Täter, die in einem möglichst kurzen Zeitraum möglichst viele Menschen töten möchten. Und sie sind mit diesen Zielen leider auch in Deutschland ziemlich erfolgreich – zu Lasten von uns allen.

Tatmotive sind oft ähnlich

In der wissenschaftlichen Forschung vertritt die „Leaking-Hypothese“ die Ansicht, dass Täter vor ihrer finalen Tat bestimmte Signale aussenden und vorbereitende Handlungen vornehmen, die, wenn sie von aufmerksamen Mitbürgern wahrgenommen und richtig gedeutet werden können, eventuell den bevorstehenden GAU verhindern könnten.

Manche Täter – wie der Terrorist Anis Amri – wollen mit ihren Taten ein Zeichen setzen, um „ihrer Sache“ zu dienen. Andere Täter wollen „nur“ ein persönliches Ziel verwirklichen, das später nicht immer aufgeklärt werden kann. Dass beide Gruppen von Tätern sich nicht sozialadäquat verhalten und gegebenenfalls sogar unter einer krankhaften Persönlichkeitsstörung leiden, macht die Beurteilung nicht einfacher, könnte aber von einem sozialen Umfeld erkannt werden.

Der geplant und bewusst herbeigeführte Absturz des Germanwings-Airbus im März 2015 mit insgesamt 149 unschuldigen Todesopfern (übrigens sind alle Opfer von Amoktaten unschuldig) kann ebenfalls als eine Amoktat angesehen werden. In einem Zivilprozess entschied in diesem Jahr das Landgericht Essen, dass explizit die staatliche Luftfahrtbehörde eine generelle Verantwortung für die Überprüfung von Piloten trägt.

Wo liegt nun die Parallele zwischen den drei Tätern von Trier, Berlin und den französischen Alpen? Sie liegt zunächst in den männlichen Tätern, deren Ziel es war, möglichst viele andere Menschen zu töten. Sie liegt ferner darin, dass sie ein Fahrzeug gesteuert haben, um ihre Ziele zu erreichen und sie liegt darin, dass sie in der Öffentlichkeit gehandelt und – wie es Juristen sagen – den ursprünglichen Transportzweck ihrer Fahrzeuge „pervertiert“, d. h. ins Gegenteil verkehrt haben.

Ist die Tat vorhersehbar?

Kann man diese Taten nun vorausahnen, um sie zu verhindern? Eine pauschale Antwort ist unmöglich. Jedenfalls gab es Anzeichen und vorbereitende sowie abschließende (Tat-)Handlungen. Es musste in allen Fällen ein Fahrzeug besorgt, gestartet und gesteuert werden. Es wurde ein wehrloses Ziel ausgesucht, anvisiert und getroffen. Ein vorausschauendes und verhinderndes polizeiliches Eingreifen war unmöglich. Zwei Täter starben, einer lebt. Zu den zahlreichen Opfern zählen auch die Hinterbliebenen, die lebenslang unter ihren Verlusten leiden müssen. Ihnen gilt unser Mitgefühl, aber dabei darf es nicht bleiben.

Amokfahrten müssen, da sie sich jederzeit wieder in unseren Städten ereignen können, untersucht werden, um gegebenenfalls Muster erkennen und Handlungen vorhersagen zu können. Wir müssen sensibler werden und dies nicht nur angesichts dieser tragischen Geschehnisse.

Wir müssen unsere Mitmenschen besser schützen, vor Gefahren, die ihnen im Straßenverkehr drohen, und zwar nicht nur durch Amokfahrer und Terroristen, sondern auch durch andere, charakterlich ebenso wenig geeignete Menschen, die mit ihren Autos und ihrem Fahrstil ein Risiko für Leib und Leben ihrer Mitmenschen darstellen.

Weiterführende Links

Offizielle Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Trier vom 2.12.2020: ▷ POL-PPTR: Amokfahrt in Trier – Gemeinsame Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft … | Presseportal

Tagungsprotokolle des 1. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages: Deutscher Bundestag – https://www.bundestag.de/ausschuesse/untersuchungsausschuesse/1untersuchungsausschuss

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.

Foto: Stadt Trier