//Müllers Kolumne: Sicherer ohne Barriere

Müllers Kolumne: Sicherer ohne Barriere

Mitmenschen mit gesundheitlichen Einschränkungen leiden beinahe täglich unter Behinderungen, die ihnen durch andere Menschen im Straßenverkehr zugefügt wurden und noch werden. Diese Praxis ist grundrechtswidrig und gehört dringend abgeschafft! Ein Umdenken muss Platz greifen, und zwar in allen staatlichen Institutionen und bei allen Verkehrsteilnehmern. Inklusion in ihrem wahren Wortsinn (lat. includere = einschließen, einfügen) sollte im Straßenverkehr bereits von Kindesbeinen an beginnen und stetig perfektioniert werden. Das sind wir unseren gesundheitlich benachteiligten Mitmenschen schuldig.

Darum geht es

Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) denkt bei dem Stichwort „Barrierefreiheit“ (Suche bei Google mit den beiden Stichworten „Barrierefreiheit“ und „BMDV“) allerdings erst einmal an einen barrierefreien Internetzugang – welch eine Ironie. Dabei beginnt Barrierefreiheit im Straßenverkehr bereits mit der Planung von Verkehrsräumen und endet mit einem planerisch und straßenbautechnisch perfekt umgesetzten Vorhaben, das keine Gruppe von Verkehrsteilnehmern benachteiligt. Die planerische Barrierefreiheit ist verankert in diversen technischen Richtlinien und Empfehlungen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV), die sich als Vereinigung von Fachexperten auf gemeinsam vereinbarte Eckpunkte für die Anlage von Straßen, Radwegen, Fußgängerüberwegen etc. geeinigt haben.
Bereits an dieser Stelle ist zu konstatieren, dass bei der Planung der vorhandenen Verkehrsräume an Barrierefreiheit und Mobilität für alle Menschen nicht überall auch an die schwächeren und körperlich eingeschränkten Verkehrsteilnehmer gedacht worden ist – und dabei handelt es sich bei diesem Thema um puren Grundrechtsschutz; denn nach Artikel 3 des Grundgesetzes darf niemand ohne sachlichen Grund gegenüber anderen Menschen benachteiligt werden und absolut nicht wegen seiner körperlichen Einschränkungen. Gerade das ist aber auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen immer noch viel zu oft der Fall, noch häufiger allerdings im Verkehrsverhalten vieler Fahrzeugführer.
Barrierefreiheit ist aber noch viel mehr. Sie bedeutet nämlich auch, dass die goldene Regel des § 1 StVO, also die gegenseitige Rücksichtnahme, gerade die schwächeren Verkehrsteilnehmer wie Kinder, Hilfsbedürftige und ältere Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht schutzlos am Rand verharren lässt. Rücksichtnahme aber bedeutet auch eine defensive Verkehrsteilnahme, die Fehler anderer Verkehrsteilnehmer, die sich im Straßenverkehr noch nicht oder überhaupt nicht auskennen, in das eigene Verhalten einkalkuliert. Eine zu verengte Sichtweise auf den Begriff der Barrierefreiheit verstellt den Blick auf kreative, umfassende Lösungen und vergisst die Verantwortung eines jeden Einzelnen von uns allen.

Ein Blick in die Verkehrsrealität

Nachteile entstehen bereits dann, wenn Wege so geplant und gestaltet worden sind oder immer noch so gestaltet oder beibehalten werden, dass die Bedürfnisse von älteren, hilfsbedürftigen und gesundheitlich benachteiligten Menschen wie z. B. seh- oder gehbehinderten Verkehrsteilnehmern und natürlich auch Personen, die mit dem Kinderwagen unterwegs sind, im Planungsprozess nicht angemessen berücksichtigt wurden. Es gibt noch viel zu viele oft unüberwindbare Stufen, und zwar nicht nur im übertragenen Sinne.
Seit 2014 gilt allerdings die DIN-Norm 18040 – 3, die als technische Norm für öffentliche Verkehrswege und Freiräume dienen soll. Die neue Norm soll die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes praktisch umsetzen und zielt darauf ab, allen Menschen, die sich im Verkehrsraum bewegen wollen, einen gleichberechtigten Zugang zu allen öffentlichen Bereichen zu ermöglichen. Dabei sollen die unterschiedlichen persönlichen Voraussetzungen der Menschen keine Rolle mehr spielen, was allerdings auch heutzutage vielerorts nicht viel mehr als eine Wunschvorstellung ist. Auch ein Arbeitsausschuss der FGSV beschäftigt sich aktuell intensiv mit dem Forschungsprojekt einer „Ex-post- Evaluierung gesetzlicher Regelungen und Instrumente zur Herstellung der Barrierefreiheit im Bereich Verkehr“, also einer Betrachtung darüber, ob für die Barrierefreiheit ergriffene Maßnahmen auch erfolgreich umgesetzt werden konnten. Man darf auf diese Ergebnisse, die 2025 vorgelegt werden sollen, sehr gespannt sein und wünscht sich eine Beteiligung oder wenigstens eine Befragung von Expertinnen und Experten von Deutscher Verkehrssicherheitsrat (DVR), Deutsche Verkehrswacht (DVW), Fuss e. V., Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club (ADFC) etc., von der der Verfasser dieser Zeilen allerdings noch nichts vernommen hat.
Doch es geht nicht nur um die Gleichstellung von behinderten Menschen.

Welche weiteren Regelungen sind hilfreich?

Die StVO benennt lediglich in einer Vorschrift ausdrücklich die prinzipiell im Straßenverkehr benachteiligten Gruppen, wenn § 3 StVO in seinem Absatz 2a regelt:
„Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.“
Der Stärkere muss sein Verkehrsverhalten also überall bei seiner Geschwindigkeitswahl nach den Bedürfnissen der Schwächeren ausrichten, und zwar trotz des verkehrsrechtlichen Handwerksfehlers, dass erst auf gefährdende Verstöße gegen diese Norm ein Bußgeld festgelegt wurde.
Die gelebte Realität auf den Straßen Deutschlands sieht leider oft anders aus und die immer noch gültigen Verkehrsziele der gegenseitigen Rücksichtnahme und der ständigen Vorsicht aus § 1 Absatz 1 StVO geraten mehr oder weniger deutlich in den Hintergrund. Warum? Unter anderem deshalb, weil der ursprünglich als soziales System gedachte öffentliche Straßenverkehr in seinen prinzipiell gut gedachten Regeln viel zu selten proaktiv, also bevor Gefahrensituationen entstehen, überwacht wird. Und wir wissen alle, dass erst die konsequente Überwachung und Ahndung von Verstößen zu allgemeiner Regelakzeptanz führt. Polizistinnen und Polizisten haben oft nicht einmal die Zeit für Verkehrsüberwachung und kommunale Vollzugsbedienstete lässt man den fließenden Verkehr selbst in ihren eigenen Städten und Dörfern wegen veralteter Rechtsvorschriften oft nicht überwachen.
Auch die zahlreichen Regelungsmöglichkeiten der Straßenverkehrsbehörden aus § 45 StVO bedürfen eines Überdenkens in Richtung einer Steigerung der Barrierefreiheit. Am besten wäre tatsächlich eine Verankerung dieses Prinzips im Straßenverkehrsgesetz, damit auch alle daraus abzuleitenden Verordnungen diesem Gedanken verpflichtet werden. Aber in der aktuellen Novelle des StVG taucht die Barrierefreiheit als Sinn und Regelungszweck des StVG leider nicht auf.

Der Straßenverkehr als soziales System

Ob der Straßenverkehr als soziales System, das ausdrücklich auch schwächere und hilfsbedürftige Verkehrsteilnehmer angemessen berücksichtigt, tatsächlich gelebt wird, können alle Leserinnen und Leser selbst einmal beobachten, wenn sie sich z.B. verkehrsberuhigte Bereiche in ihrem Wohnumfeld anschauen, so diese überhaupt von den Kommunen nicht nur in einer Alibifunktion eingerichtet worden sind. Denn gerade diese mittels Zeichen 325.1 und 325.2 (Volksmund: „Spielstraße“) beschilderten Bereiche sind neben der Verkehrsbedeutung insbesondere als kommunikative Bereiche erdacht, geplant und eingerichtet worden. Die Geschwindigkeit der Fahrzeugführer ist genau aus diesem Grund auf Schrittgeschwindigkeit, also die niedrigste mögliche Fahrgeschwindigkeit (jetzt verbindlich definiert mit maximal 10 km/h), gesetzgeberisch herunterreguliert worden, und zwar auch für Radfahrer. Spielende Kinder auf der Straße und der Gebrauch der Straße als Kommunikationsfläche sollen in diesen Bereichen die Regel und nicht die Ausnahme sein. Zu diesen ganz besonderen Zwecken soll auch die „Straßenmöblierung“ beitragen, die mit Bäumen, Pflanzen und anderen Gestaltungselementen die sozialen Funktionen in den Vordergrund stellen und insbesondere den Kraftfahrzeugverkehr unter diese Zwecke einordnen soll. Ein lebenswerter Verkehrsraum ist das erstrebenswerte Ziel einer solchen Städte- und Verkehrsplanung, die aber leider nur sehr punktuell von wenigen fortschrittlichen Kommunen umgesetzt wird.

Das ist zu tun

Es hilft übrigens der angestrebten Barrierefreiheit in diesem sozial verstandenen Sinne nichts, die vorhandenen Straßenverkehrsräume in ihrer historisch für den Kraftfahrzeugverkehr vorgesehenen Gestaltung als quasi unabänderlich hinzunehmen. Wer echte Barrierefreiheit fordert und umsetzen will, muss Geld in die Hand nehmen, um vorhandene Nachteile auszugleichen, sprich: neu zu planen und tatsächlich barrierefrei umzubauen. Zuallererst aber wollen diese Gruppen von Verkehrsteilnehmern in die Neu- und Umgestaltung beratend einbezogen werden; denn nur so können sie darüber mitbestimmen, wie die bestehenden Benachteiligungen schnellstmöglich effektiv beseitigt werden können.
Schwächere Verkehrsteilnehmer können dabei auf verschiedene kreative Weise geschützt werden, aber diese Planungen und deren Umsetzungen beginnen eben im Kopf und müssen tatkräftige Hände erreichen können. Glücklicherweise gibt es bereits zahlreiche positive Beispiele in den Kommunen, an denen man sich orientieren könnte, wenn man denn wollte.
Eine Recherche zu dem Begriff „Barrierefreiheit“ auf der Internetseite des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) ergab immerhin 72 Treffer. Immerhin war bei den Inhalten ein deutlicher Schwerpunkt für den ÖPNV (12 Treffer) sowie den Schienenverkehr (19 Treffer) zu erkennen und zwei Treffer widmeten sich den Notwendigkeiten, Blinde und Sehbehinderte im Verkehrsraum besonders zu schützen. Das macht Hoffnung, lässt aber auch Luft nach oben. Diese Lücken können bekanntlich gut gefüllt werden, wenn man die in der Regel ehrenamtlich arbeitenden Vertreter der Lobbygruppen derjenigen Verkehrsteilnehmer zu Wort kommen lässt, deren Sicherheitsinteressen besonders geschützt werden müssen. Öffentliche Anhörungen, Bürgerbeteiligungen und gemeinsame Vor-Ort-Begehungen prekärer Verkehrsbereiche könnten da ein sinnvoller Ansatz sein.
Aber auch die Polizei und die Kommunen müssen im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags der Verkehrsüberwachung der gelebten Barrierefreiheit zu ihrem Recht verhelfen. Leider sind die Handlungspflichten aus § 3 Abs. 2a StVO erst dann mit einem Bußgeld bewehrt, wenn es bereits zu einer Gefährdung einer Person aus den drei Risikogruppen gekommen ist. Das ist in höchstem Maße kontraproduktiv und schützt niemanden wirklich. Hier ist der Verordnungsgeber gefordert, Klarheit zu schaffen, sodass in einem nächsten Schritt auch diese Verhaltensverstöße sanktioniert werden können, damit die Vorschriften zukünftig eingehalten werden.
Auch die zahlreichen Parkverstöße an Stellen im Verkehrsraum, die besonders prekär sind, wie z.B. abgesenkte Bordsteine oder achtlos als gefährliche Stolperfallen hingeworfene E-Scooter erschweren Blinden und Sehbehinderten ihre Verkehrsteilnahme über Gebühr. Eine konsequentere Praxis des kostenpflichtigen Abschleppens und Umsetzens der Fahrzeuge dieser ignoranten Fahrzeugführer ist dringend notwendig!

Eine Aufgabe für uns alle

Der Prozess der Steigerung der Barrierefreiheit bedarf aber auch einer verstetigten Verankerung in den Köpfen der Verkehrsteilnehmer. Hier ist der Staat mit all seinen Gliederungen in Bund, Ländern und Kommunen in der Pflicht, dem richtigen Konzept zur tatsächlichen Geltung zu verhelfen. Es beginnt mit dem Verkehrsunterricht in den Schulen aller Gliederungen und endet mit dem Verkehrsunterricht gem. § 48 StVO für diejenigen, die sich nicht an die Regelungen gehalten haben.
Auch die Nichtregierungsorganisationen wie DVR, DVW, Automobilclubs und andere Verbände, die sich der Sicherheit im Straßenverkehr und nicht nur ihren Lobbyinteressen verschrieben haben, stehen in der Pflicht, gemeinsam an diesem Projekt zu arbeiten. Gemeinsam bedeutet aber dann auch die aktive Teilnahme an einer konzertierten Aktion „Verkehrssicherheit durch Barrierefreiheit“ und die Bereitstellung der dafür erforderlichen personellen und sachlichen Ressourcen.
Last but not least zählen zu den verantwortlichen Personen auch die Verkehrspolitiker in allen Parlamenten, vom Stadtrat über den Kreistag bis zu den Landtagen und dem Bundestag. Sie müssen eine gemeinsame Stimme für den Abbau der Barrieren im Verkehrsraum und in den Köpfen finden, um wirksame Konzepte zu finden, die auch tatsächlich eine Chance auf eine Umsetzung besitzen. Sie, die Verkehrspolitiker, müssen ihre Verwaltungsbehörden in den Stand versetzen, ihre politischen Pläne auch tatsächlich umsetzen zu können und ihre Aufgabe ist es auch, die konkrete Umsetzung zu kontrollieren und bei Defiziten einzufordern.
Das darf letztendlich nicht an Haushältern scheitern; denn schließlich geht es bei der Barrierefreiheit immer auch um den Schutz von Menschenleben und dafür darf kein Preis zu hoch sein.
Barrierefreiheit ist mehr als nur ein städtebauliches Konstrukt. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eine Gesellschaft, die diese Aufgabe nicht bewältigen kann, wird schwerlich ihrer Aufgabe gerecht werden können, seine schwächsten Mitbürgerinnen und Mitbürger effizient vor Gefahren zu schützen.

Weiterführende Links
Bundesfachstelle Barrierefreiheit
hier klicken
Erklärung des BMDV zur Barrierefreiheit
hier klicken
Statement der FGSV
hier klicken

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.

Foto: Bicker