Der Bundesminister für Gesundheit hat Anfang August einen Gesetzentwurf zur Legalisierung von Cannabis in das Kabinett eingebracht. Darin ist ein Arbeitsauftrag für das Bundesministerium für Digitales und Verkehr enthalten, der öffentlich diskutiert werden muss.
Der Arbeitsauftrag
Auf Seite 103 des aktuellen Gesetzentwurfs findet sich der folgende Arbeitsauftrag:
„Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) wird die für die Zulässigkeit des Führens von Kraftfahrzeugen auf öffentlichen Straßen maßgeblichen Grenzwerte für Tetrahydrocannabinol (THC) im Rahmen des § 24a des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) auf wissenschaftlicher Grundlage untersuchen und ermitteln. Hierzu wird eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe bestehend aus Experten der Bereiche Medizin, Recht und Verkehr unter Federführung des BMDV mit dem Ziel einer ergebnisoffenen Untersuchung und Ermittlung eines ggf. gesetzlich festzulegenden THC-Grenzwertes im Rahmen des § 24a Absatz 2 StVG eingerichtet. Ergebnisse der Arbeitsgruppe sollen im Frühjahr 2024 vorliegen.“
Die personelle Komponente
Es soll also durch das BMDV eine interdisziplinär zusammengesetzte Expertenkommission gebildet werden. Damit liegt deren personelle Zusammensetzung in den Händen des Ministeriums, dem es obliegt, das beschriebene „Ziel einer ergebnisoffenen Untersuchung“ durch eine personelle Zusammensetzung von Befürwortern und Gegnern einer Anhebung des bisherigen Grenzwertes zu gewährleisten. Es bleibt spannend, welche Experten in diese Kommission berufen werden.
Interessant ist es jedoch bereits im Vorfeld der neu zu besetzenden Expertenkommission, dass es beim BMDV bereits genau eine solche interdisziplinär besetzte „Grenzwertkommission“ gibt, die sich seit mehr als zwei Jahrzehnten dezidiert mit der Grenzwertproblematik beschäftigt. Gerade bei der möglichen Anhebung des Grenzwertes für Tetrahydrocannabinol (THC) im Blut eines Kraftfahrzeugführers, der derzeit bei 1 ng/ml THC im Blutserum verortet ist, ist sich diese Kommission inhaltlich uneins und konnte sich nicht zu einer einheitlichen Meinungsäußerung entschließen.
Die fachliche Komponente
Nach dem Sinn und Zweck der im Gesetzentwurf genannten Vorschrift des § 24a Abs. 2 StVG erfordert das Vorliegen ordnungswidrigen Handelns eine Konzentration von THC im Blut, die es entsprechend dem Charakter der Vorschrift als eines abstrakten Gefährdungsdelikts als möglich erscheinen lässt, dass der untersuchte Kraftfahrzeugführer am Straßenverkehr teilgenommen hat, obwohl seine Fahrsicherheit eingeschränkt war. Das wird in der Wissenschaft bei Konzentrationen ab 1 ng/ml THC im Blutserum angenommen und ist vom Bundesverfassungsgericht unter wissenschaftliche Beratung als unterer Grenzwert für das Vorliegen des § 24a Abs. 2 StVG festgelegt worden (BVerfG, Beschluss vom 21.12.2004 – 1 BvR 2652/03, juris).
Grenzwerte sind aus der verkehrsjuristischen Sicht generell wie folgt zu beurteilen:
Formaljuristisch gesehen sind Grenzwerte nur dann absolut verbindlich, wenn Sie vom Gesetzgeber – etwa im Rahmen des § 24a StVG – gesetzt werden oder wenn sie vom Verordnungsgeber, dem BMDV in Abstimmung mit dem Bundesrat, im Rahmen der Regelungen der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) gesetzt werden.
Werden Grenzwerte weder vom Gesetz-, noch vom Verordnungsgeber verbindlich gesetzt, sondern lediglich durch die Rechtsprechung der Bundes- und Obergerichte, richten sich diese inhaltlich nach dem Sachverstand von generell beauftragten oder individuell berufenen Sachverständigen.
Generell beauftragt war bislang die vom BMDV berufene Grenzwertkommission, eine Expertenkommission von Toxikologen und Medizinern. Sie hat die bekannten analytischen Grenzwerte gesetzt. Der aktuell immer noch gültige THC-Grenzwert von 1 ng/ml Blutserum geht dabei auf den Beschluss der Grenzwertkommission vom 20. November 2002 zurück und ist für die Annahme einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG, also das Führen eines Kraftfahrzeugs unter der Wirkung von Cannabis, empfohlen worden und in einem weiteren Beschluss vom 22. Mai 2007 (Fachzeitschrift des Bundes gegen Alkohol und Drogen im Straßenverkehr BLUTALKOHOL Jahrgang 44, 311) aktualisiert und bestätigt worden. Der Gesetzgeber und der Verordnungsgeber haben allerdings diesen und die anderen analytischen Grenzwerte nicht in das StVG und in die FeV übernommen. Sie sind ausschließlich im Bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog für Verkehrsordnungswidrigkeiten zu finden und besitzen damit nur den Rang einer die Entscheidungen der Exekutive (Polizei und Bußgeldbehörden) bindenden Verwaltungsvorschrift. Diese Platzierung der Empfehlungen der Grenzwertkommission hat zur Folge, dass sich die Judikative nicht an die sachverständig empfohlenen Grenzwerte halten muss.
Die Verwaltungsgerichte halten sich daher auch nicht an die Empfehlungen der Grenzwertkommission, sondern sehen bei den Betäubungsmitteln außer Cannabis deutlich geringere Analysewerte als begründete Tatsachen für die Entziehung der Fahrerlaubnis an. Unerheblich ist z.B. nach Ansicht des VG Bremen, dass der festgestellte Wert unterhalb des zu § 24a Abs. 2 StVG festgelegten Grenzwertes von 75 ng/ml liegt. Dieser Wert betrifft nur die Grenze für die Verhängung eines Bußgeldes nach § 24a StVG bzw. die Schwelle zur Strafbarkeit nach dem StGB. Für die Feststellung fehlender Fahreignung i.S.v. Nr. 9.1 Anlage 4 zur FeV reicht es hingegen aus, wenn feststeht, dass der Betroffene Drogen (mit Ausnahme von Cannabis) im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes konsumiert hat (VG Bremen, Beschluss vom 25. März 2022 – 5 V 343/22, Rn. 17, juris). Auch ein Benzoylecgoninwert mit ca. 45 ng/ml, also unter dem von der sog. Grenzwertkommission festgelegten Grenzwert von 75 ng/ml, führte daher zu einer rechtmäßigen Entziehung der Fahrerlaubnis (VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 20. Januar 2021 – 9 L 1627/20, Rn. 21, juris; ebenso bei einem festgestellten Benzoylecgoninwert von 31,4 ng/ml schon das OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. August 2009 – 12 ME 156/09, Rn. 10, juris). Selbst deutliche Unterschreitungen der analytischen Grenzwerte werden aktuell zum Anlass begründeter Entziehungen genommen, sodass eine geringe Methamphetamin-Konzentration im Blut eines Fahrerlaubnisinhabers von 2,7 ng/ml bereits genügt, um eine die Fahreignung ausschließende Einnahme des Betäubungsmittels anzunehmen (VG Leipzig, Urteil vom 15. Januar 2021 – 1 K 999/20, juris).
Anders beurteilen die Bedeutung der Empfehlungen der Grenzwertkommission die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Erforderlich ist für diese Bußgeldgerichte für den Tatbestand des § 24a Abs. 2 S. 2 StVG der Nachweis der betreffenden Substanz in einer Konzentration, die eine Beeinträchtigung der Fahrsicherheit zumindest als möglich erscheinen lässt und damit die gesetzliche Vermutung rechtfertigt. Das ist nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft jedenfalls dann der Fall, wenn zumindest der in der Empfehlung der Grenzwertkommission vom 20.11.2002 empfohlene Nachweisgrenzwert erreicht ist (OLG Hamm, Beschluss vom 3. August 2021 – III-5 RBs 157/21, Rn. 10, juris). Es wird daher in Übereinstimmung mit den aktuellen Beschlüssen der Grenzwertkommission die Erreichung des Grenzwertes von 1 ng/ml Tetrahydrocannabinol im Blutserum vorausgesetzt (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22. September 2010 – 3 (7) SsBs 541/10, Rn. 6, juris). Dennoch erlaubt das OLG München unter bestimmten Umständen auch ein Unterschreiten der Grenzwerte, wenn bei einem Kraftfahrzeugführer eine Amphetaminkonzentration von 0,01 mg/l (= 10 ng/ml) festgestellt wurde, die zwar unter dem analytischen Grenzwert von 25 ng/ml liegt und kann daher allein die Verurteilung nicht tragen. Aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hätte das über diesen Fall zu befindende Amtsgericht jedoch für eine Verurteilung gem. § 24a Abs. 2 StVG Umstände feststellen müssen, aus denen sich ergibt, dass die Fahrtüchtigkeit des Angeklagten trotz der verhältnismäßig niedrigen Betäubungsmittelkonzentration zwar nicht aufgehoben, aber doch eingeschränkt war (OLG München, Beschluss vom 13. März 2006 – 4St RR 199/05, Rn. 22, juris).
Letztendlich kann Rechtsklarheit nur vom Gesetz- oder Verordnungsgeber geschaffen werden. Verbleibt es bei der aktuellen Rechtslage, sind die Festlegungen der Grenzwertkommission nicht mehr, aber auch nicht weniger als mehr oder weniger verbindliche Empfehlungen eines Expertengremiums, von denen die Judikative bei entsprechender sachlicher Begründung immer abweichen darf.
Fazit
Es existiert immer noch kein Lagebild über Verkehrsunfälle unter dem Einfluss von Cannabis (THC) und erst recht nicht über folgenlose Fahrten unter dem Einfluss dieses Betäubungsmittels.
De facto soll die bestehende Grenzwertkommission beim BMDV in dieser speziellen Frage ersetzt werden und dies offensichtlich, weil sie nicht die für das Gesetzesvorhaben „passenden Ergebnisse“ zu liefern bereit oder in der Lage ist. Es steht daher zu erwarten, dass die neu zu bildende Expertenkommission personell so zusammengesetzt wird, dass das erwünschte Ergebnis einer Anhebung des Grenzwertes geliefert wird, denn sonst hätte man der bestehenden Grenzwertkommission diesen Arbeitsauftrag gegeben.
Noch eines ist wichtig.
Der Fokus des Gesetzentwurfs liegt eindeutig auf dem Recht der Verkehrsordnungswidrigkeiten; denn wenn der Grenzwert angehoben wird, werden viele Konsumenten von Cannabis keinen Bußgeldbescheid erhalten, weil sie zwar erwiesenermaßen Konsumenten des Betäubungsmittels sind, aber ihr Konsumzeitpunkt so weit zurück liegt oder die Konzentration des genossenen Produkts so gering gewesen ist, dass der neue Grenzwert nicht erreicht worden ist. Die Polizei wird bei Verdacht auf eine Drogenfahrt auch weiterhin eine Blutentnahme anordnen müssen und der Verdächtige wird diese erdulden müssen, weil eine mögliche Über- oder Unterschreitung des Grenzwertes ausschließlich im Blutserum beweissicher festgestellt werden kann.
Der Pferdefuß für diese Konsumenten wird jedoch im Gesetzentwurf nicht beachtet. Polizeibeamte und Bußgeldbehörden sind auch bei eingestellten Verfahren dazu verpflichtet, die Tatsachen des Konsums von Cannabis und des Führens eines Kraftfahrzeugs an die Fahrerlaubnisbehörden zu berichten. Die Fahrerlaubnisbehörden dürfen in diesen Fällen auch nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes ein ärztliches Drogenscreening gegenüber den Fahrerinnen und Fahrern anordnen, um deren Konsumstatus hinsichtlich Cannabisprodukten (einmalig, gelegentlich oder regelmäßig) festzustellen und sie werden es (übrigens auf Kosten der Probanden, die dieses Screening aus eigener Tasche bezahlen müssen, um sich entlasten zu können) auch tun, weil das Fahreignungsrecht ein Gefahrenabwehrrecht ist und zwingend der Frage nachgehen muss, ob diese Fahrerinnen und Fahrer nur aus Zufall den Grenzwert unterschritten haben, aber durch ihren Konsum des Betäubungsmittels eventuell doch ein nachhaltiges Risiko für die Verkehrssicherheit sind. Glücklicherweise ist das Gefahrenabwehrrecht deutlich rigoroser als das Bußgeldrecht, das offensichtlich – und geprägt durch den Zeitgeist – leichter verändert werden kann.
Weiterführende Links
Grenzwertkommission des BMDV
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Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.
Foto: Cytis/Pixabay
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