//Müllers Kolumne: Politiker mehr fordern!

Müllers Kolumne: Politiker mehr fordern!

Alljährlich im Februar oder März veröffentlicht das Deutsche Statistische Bundesamt die vorläufigen Unfallzahlen für die Verkehrsunfälle des vergangenen Jahres. Es geht zwar dem Namen nach um eine Verkehrsunfallbilanz, die aber besser (und ehrlicher) „Verkehrsunfallopferbilanz“ heißen sollte. Doch dieses Wort nehmen die Minister, die alljährlich diese Bilanzen vorstellen, nicht so gern in den Mund.
Die entscheidenden zwei Fragen lauten: Wo liegen die Ursachen und wie kann man diese abstellen?

Das Grundverständnis

Nicht nur die amtlich festgestellten und veröffentlichten Verkehrsunfallursachen sind wichtig für deren Bewertung. Auch andere, weniger publik gemachte Rahmenbedingungen der Verkehrsunfallstatistik geben Anlass zu einem kritischen Blick hinter die Kulissen. Hinterfragt werden müsste in jedem Fall, welche tiefere Ursache zum Beispiel zu einem Vorfahrtsfehler oder zum Unterschreiten des Sicherheitsabstands geführt hat. Diese Fragen werden von der Verkehrsunfallstatistik aber ebenso wenig beantwortet wie die Frage, wie diese Unfallursachen effektiv bekämpft werden können. Vor allem aber muss hinterfragt werden, ob Jahr für Jahr Menschenleben gegen Menschenleben aufgewogen werden und in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden dürfen. Das aber geschieht leider regelmäßig.

Polizeilich aufgenommene und nicht aufgenommene Verkehrsunfälle

Auffällig ist bereits die Tatsache, dass die absolute Anzahl der polizeilich aufgenommenen Unfälle im vergangenen Jahr mit knapp 2,4 Millionen wieder angestiegen ist. Das aber sind nur die offen sichtbare Anzahl der tatsächlich polizeilich aufgenommenen Verkehrsunfälle. Eine wichtige Verhältniszahl dazu wird nie veröffentlicht. In manchen Regionen gibt es so wenige Polizeibeamte, dass die Polizei bei Verkehrsunfällen mit (lediglich) Sachschaden nach Untersuchungen des Verfassers dieser Kolumne in bis zu zehn Prozent aller gemeldeten Verkehrsunfälle schon am Telefon empfiehlt, sich doch „privat“ zu einigen, weil erst in Stunden ein Einsatzfahrzeug zur Verfügung stünde. Es gibt also eine große Anzahl von Verkehrsunfällen, die trotz einer telefonischen Unfallmeldung nicht polizeilich aufgenommen werden. Daneben rufen viele Unfallbeteiligte die Polizei gar nicht erst an, weil einige von ihnen eine polizeiliche Verkehrsunfallaufnahme unter allen Umständen vermeiden möchten, viele davon mutmaßlich deshalb, weil sie zum Unfallzeitpunkt alkoholisiert waren oder über keine Fahrerlaubnis verfügten. Die vorgenannten Tatsachen verfälschen die Bilanz und die ordnungswidrig oder gar strafbar handelnden Verkehrsunfallverursacher erhalten weder eine Verwarnung, noch wird ein sonst fälliges Bußgeld oder ein Straftatverdacht geprüft. Punkte können dafür auch nicht verteilt werden. Das System hat damit eine erhebliche Sicherheitslücke.

Stunde der Relativierer

Es ist nicht neu, dass auch Unfallstatistiken auf mehrere Arten lesbar und interpretierbar sind. Auch die amtliche Unfallstatistik des jeweiligen Vorjahres bildet hier keine Ausnahme. Was sagen uns diese Zahlen?
Traditionell müssen die Innenminister in den Bundesländern die Ergebnisse der amtlichen Verkehrsunfallstatistik der Öffentlichkeit präsentieren. Regelmäßig erklären sie dabei gerne einen Rückgang der Verkehrstoten auf den Straßen in ihren Ländern, den sie ebenso regelmäßig mit ihren eigenen Bemühungen wie zum Beispiel Überwachungsmaßnahmen begründen. Ungern nehmen sie zu gestiegenen Verkehrsunfallzahlen und Verkehrsunfalltoten Stellung. Erklärungsversuche bleiben dabei oft vage und werden oft nur auf kritische journalistische Nachfragen vorgenommen. Da die meisten Innenminister keine Verkehrsfachleute sind, bedienen sie sich in den Pressekonferenzen ihrer Fachleute, die sehr wohl die Ursachen fachlich professionell einordnen können.
Verkehrsminister veröffentlichen diese Bilanzen nicht, wohl hauptsächlich deshalb, weil ihre nachgeordneten Mitarbeiter in den Straßenverkehrsbehörden, Bußgeldbehörden und Fahrerlaubnisbehörden der Kommunen keine Verkehrsunfälle aufnehmen. Allerdings gibt es auch den zweiten Eckpfeiler der Verkehrsüberwachung, nämlich die kommunale Verkehrsüberwachung der Geschwindigkeit und die stationäre Rotlichtüberwachung, die nahezu überall in Deutschland in den Händen der Kommunen liegt. Verkehrssicherheit ist aber ein Gesamtprodukt der staatlichen und nichtstaatlichen Verkehrssicherheitsarbeit. Ihre Strategien und ihre Ergebnisse gehen uns alle an.

Die Zahlen und ihre Bewertung

Als wesentliche Fakten werden für das vergangene Jahr benannt: Die Anzahl der Verletzten ist im Vergleich zum Vorjahr um elf Prozent gestiegen und die Anzahl der polizeilich aufgenommenen Verkehrsunfälle um vier Prozent. Die Zahl der mit einem Pedelec tödlich Verunglückten stieg mit plus 60 Prozent (plus 75 Getötete) besonders stark an und bei Fahrrädern ohne einen Hilfsmotor waren es plus 14 Prozent (plus 31 Getötete). Die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Fußgängerinnen und Fußgänger erhöhte sich um elf Prozent (plus 32 Getötete). Bei Pkw-Insassen waren es plus sieben Prozent (plus 73 Getötete).
Einige Vergleichszahlen sind wichtige Eckpunkte für eine Einordnung des Unfallgeschehens des motorisierten Verkehrs über mehrere Jahre hinweg. Einer dieser Eckpunkte ist die Jahresfahrleistung aller Kraftfahrzeuge. Die ist 2022 gegenüber dem Vorjahr geschätzt um 4,5 Prozent auf voraussichtlich 721 Milliarden Kilometer gestiegen. Zur besseren Einordnung: Vor der Pandemie im Jahr 2019 betrug diese noch rund 755 Milliarden Kilometer und war damit 4,7 Prozent mehr als im Jahr 2022. Wenn weniger gefahren wird, sinkt, so die Logik der Mobilität im Kraftverkehr, auch die allgemeine Unfallgefahr, weil es auch weniger mögliche Fahrkonflikte zwischen den Verkehrsteilnehmern gibt.
Die vorgenannten Zahlen sagen nichts über die Jahresfahrleistungen von Fahrerinnen und Fahrern mit Elektrofahrrädern und anderen Fahrrädern aus. Hier fehlen ebenso Vergleichszahlen wie für den Fußverkehr.
Deutlich wird an den gestiegenen Zahlen, dass Menschen aus den Risikogruppen der ungeschützten, besser: nicht durch eine Karosserie und Assistenzsysteme vor Verletzungen geschützte Verkehrsteilnehmer, häufiger ihr Leben verloren als im Vorjahr. Klar ist, dass der Staat nicht darauf hoffen darf, dass die Zahlen weiterhin rückläufig sein werden. Er muss mit seiner Arbeit beständig dem Trend zur Verursachung von Verkehrsunfällen entgegensteuern. Aber wie?

Die Ursachen hinter den Ursachen

Laut den letzten Jahresberichten des Kraftfahrt-Bundesamtes in Flensburg beträgt der Bestand an im Fahreignungsregister („Verkehrssünderkartei“) mit Punkten oder Führerscheinmaßnahmen eingetragenen Personen mit mehr als 10 Millionen Personen eine gleichbleibend hohe Zahl. Zahlreiche Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer begehen also derart schwere Delikte (Straftaten und Ordnungswidrigkeiten), dass sie mit einem bis drei Punkten eingetragen werden und sich damit auf dem Radarschirm der Fahrerlaubnisbehörden befinden. Glücklicherweise führt nicht jedes mit Punkten bewehrte Fehlverhalten zu einem Verkehrsunfall, aber immer zu einem gesteigerten Risiko für andere Menschen.
Blickt man ein wenig kritischer auf die verschiedenen Gruppen der Unfallbeteiligten und Unfallopfer, stellen sich weitere Fragen. Entgegen dem insgesamt rückläufigen Trend steigt in der Gruppe der Verkehrstoten und der Verletzten die Generation 65+ ebenso moderat an wie nun bereits im mehrjährigen Trend die Gruppe der Radfahrerinnen und Radfahrer.
Damit sind zwei Risikogruppen angesprochen, die den gestiegenen Anforderungen des modernen, zügigen Straßenverkehrs zumindest in Teilbereichen nicht mehr in vollem Umfang gewachsen zu sein scheinen und konkrete Schutzmaßnahmen des Staates verdienen.
Bei allen amtlich festgestellten Verkehrsunfallursachen handelt es sich nicht nur um Nachlässigkeiten im Verkehrsverhalten, sondern in zahlreichen Fällen auch um einen Ausdruck angestiegener Aggressionen im Straßenverkehr.

Die wahren Gründe und fehlende Konsequenzen

Polizeilich festgestellte Verkehrsunfallursachen haben dahinterstehende Gründe. Oft sind es Konzentrationsmängel, Ablenkung oder eine anders begründete riskante Fahrweise. Manchmal ist es Müdigkeit oder Mängel in der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Diese Gründe werden nicht amtlich bekannt und vielfach wird von den unfallaufnehmenden Polizeibeamten nicht einmal danach gefragt. Auf diese oberflächliche Weise, die auch dadurch begünstigt wird, dass niemand eine Aussage treffen muss, die ihn in einem Verfahren belasten könnte, kann den wahren Gründen nicht entgegengesteuert werden. Maßnahmen wie etwas wissenschaftliche Untersuchungen nach einem abgeschlossenen amtlichen Verfahren, wenn also keine belastende Maßnahme mehr droht, unterbleiben weitestgehend sowohl bei der Bundesanstalt für Straßenwesen wie auch bei der Unfallforschung der Deutschen Versicherer, also den beiden Forschungsinstituten, die sich in Deutschland um die wissenschaftliche Aufarbeitung des Verkehrsunfallgeschehens kümmern.
Die Automobilhersteller beteiligen sich traditionell nicht einmal an der öffentlichen Unfallursachenforschung. Zwar erforschen sie in einem Modellprojekt in den Regionen Hannover und Dresden die Ursachen von Verkehrsunfällen mit schweren Folgen, führen diese Ergebnisse aber nicht in die wissenschaftliche Diskussion ein.
Somit bleibt die Bekämpfung der Verkehrsunfallursachen weitestgehend Stückwerk und eine generelle Strategie zur Bekämpfung der für viele Familien mit lebenslang belastenden Unfallfolgen verbundenen Verkehrsunfälle ist bundesweit nicht vorhanden.

Fazit

Der Staat kommt seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, sich schützend vor Leib und Leben seiner Bürgerinnen und Bürger zu stellen nicht so qualifiziert nach, wie er es könnte. Dieses Manko könnten jedoch nur verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker ausgleichen, indem sie für Bund und Länder gemeinsame Strategien entwickeln. Dies geschieht aktuell nicht. Jedes Bundesland arbeitet für sich und der notwendige Austausch findet nur rudimentär statt.
Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik eine große Verkehrssicherheitsinitiative durch die Schirmherrschaft eines Bundespräsidenten, eines Bundeskanzlers oder eines Ministerpräsidenten öffentlichkeitswirksam begleitet wurde. Zu groß scheint die Gefahr einer politischen Peinlichkeit zu sein, wenn eine solche Initiative mangels durchsetzungskräftiger Maßnahmen scheitern würde.

Weiterführende Links
Verkehrsunfallstatistik des Deutschen Statistischen Bundesamtes
hier klicken
Verunglückte im Straßenverkehr nach Bundesländern 2022
hier klicken
Kraftfahrt-Bundesamt – Verkehrsauffälligkeiten
hier klicken
Bundesanstalt für Straßenwesen – Jahresfahrleistung
hier klicken

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.

Foto: Rico Löb/Pixabay