//Müllers Kolumne: Quo vadis Verkehrsgerichtstag?

Müllers Kolumne: Quo vadis Verkehrsgerichtstag?

Ein alljährlicher Pflichttermin für die Verkehrsjuristen ist der Deutsche Verkehrsgerichtstag (VGT). Die Bilanz dieses Expertentreffens ist gemischt, wohl auch deswegen, weil die Vertreter aus der Verkehrspolitik und den zuständigen Bundesministerien unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern rar gesät sind. Auch der Markenname „Verkehrsgerichtstag“ will angesichts der kaum vorhandenen Vertreter aus der Justiz nicht mehr so recht passen – keine berauschenden Ausgangsbedingungen für eine hohe Durchsetzungskraft der Empfehlungen. Zu Unrecht; denn die Themen sind stets brandaktuell für die Verkehrssicherheit, wenigstens die meisten, und die Empfehlungen treffen oft ins Schwarze, indem sie die Probleme deutlich benennen.

Die Themen des 61. Verkehrsgerichtstages

Traditionell berät der VGT in acht Arbeitskreisen. Die acht Themen des kommenden VGT, der vom 25.1. – 27.1.2023 in Goslar stattfinden wird, sind:
• AK I: Fahrzeugdaten
• AK II: Halterhaftung bei Verkehrsverstößen: Ein Beitrag der Verkehrssicherheit?
• AK III: KI-Haftung im Straßenverkehr/Haftung beim autonomen Fahren
• AK IV: Reparaturkostenersatz beim Haftpflichtschaden
• AK V: Auf der Suche nach geltenden und erforderlichen Grenzen für E-Scooter, Fahrräder & Co.
• AK VI: Meldepflicht für Ärztinnen und Ärzte von fahrungeeigneten Personen?
• AK VII: Fahrtenbuchauflage – Halterhaftung durch die Hintertür
• AK VIII: Der schmale Grat zwischen Fehler und Verstoß im Luftverkehr („Just Culture“)

Die Sicherheitsrelevanz der Themen

Diese sicherheitsrelevante Themenvielfalt des 61. VGT ist seit vielen Jahren einmalig. Dem Verfasser ist aus den letzten Jahren kein VGT bekannt, der Sicherheitsthemen in der nunmehr angebotenen Breite behandelt hätte. Das ist schon einmal ein dickes Plus an möglichen Vorschusslorbeeren. Doch schauen wir uns die Themenbereiche der Arbeitskreise (AK) im Einzelnen an.
Der AK I beschäftigt sich mit dem Thema der Verwendung und berechtigten Weitergabe von Fahrzeugdaten, die aktuell von der EU-Kommission mit dem Data Act vereinheitlicht und vereinfacht werden soll. Die Relevanz für die Verkehrssicherheit wird an der Frage deutlich, dass die bereits aktuell von einigen Fahrzeugen praktizierte Umfeldüberwachung (siehe Tesla) zwar fortlaufend Ton- und Bildaufnahmen vornimmt, aber die von diversen Kameras aufgezeichneten Personen diese Tatsache bislang kaum bemerken oder gar Ihr Einverständnis dazu erklärt hätten. Diese ohne Zustimmung gewonnen Daten sind natürlich bereits jetzt dazu geeignet, Unfälle zu rekonstruieren, aber auch mögliche unfallauslösende Verkehrsverstöße aufzuzeichnen. Der Zugriff auf diese Daten ist daher potenziell interessant für die Polizei, die die Verkehrsunfälle bearbeiten muss, für die Unfallopfer, die auf einen gerechten Schadensausgleich hoffen und für die Ahndungsinstanzen wie Bußgeldbehörden und Gerichte.

Auch im AK II steht eine Initiative der EU im Mittelpunkt, nämlich die Überarbeitung der „Enforcement-Directive“, also der Richtlinie für einen grenzüberschreitenden Austausch von Daten über gefährliche Verkehrsverstöße wie Geschwindigkeits-, Abstands- und Rotlichtverstöße. Das europäische Ziel ist eine Halbierung der Verkehrsunfallopferzahlen bis zum Jahr 2030 gegenüber den Opferzahlen aus 2020. Auch der Verfasser dieser Zeilen ist als Referent involviert in die Arbeit des AK, dessen Sicherheitsrelevanz auf der Hand liegt, weil mögliche Sanktionen gegenüber Täterinnen und Tätern von Ordnungswidrigkeiten immer auch eine verkehrserzieherische Wirkung entfalten sollen. Diese wäre unmöglich, wenn Täterinnen und Täter nur deswegen unbehelligt blieben, weil der Fahrzeughalter die Auskunft über die Täterschaft verweigert oder ihm diese Personen tatsächlich unbekannt sind.

Im AK III geht es um das Zukunftsthema, wer bei Verkehrsunfällen mit hochautomatisierten und autonomen Fahrzeugenden für die Unfallfolgen haftet. Auch für dieses Thema arbeitet die EU an einer Richtlinie für die Haftung bei Fehlern der Künstlichen Intelligenz (KI), die dann eben doch beweisen würden, dass auch Maschinen erstens fehlerhaft handeln können und zweitens dadurch Schäden entstehen können, für die Verantwortliche gesucht und gefunden werden müssen; denn sonst bleiben Geschädigte auf ihren ohne Schuld erlittenen Schäden sitzen.

Der AK V wird sich mit E-Scootern und Fahrrädern und vor allem deren Fahrerinnen und Fahrer beschäftigen. Noch immer werden viel zu viele Verkehrsunfälle mit diesen Fahrzeugen von betrunkenen Fahrerinnen und Fahrern verursacht und die juristischen Folgemaßnahmen sind nach Ansicht der Rechtsprechung noch immer nicht vollends geklärt. Insbesondere ist fraglich, ob die geltenden Promillegrenzen für andere Kraftfahrzeuge auch für E-Scooter und Co. gelten oder mildere Grenzen gezogen werden sollten. Wer durch Alkoholstraftaten und Alkoholordnungswidrigkeiten auffällig wird, setzt dadurch regelmäßig die Vermutung, er sei ungeeignet und wird aufgrund von § 13 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) von der Fahrerlaubnisbehörde zur medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) geschickt. Würde die Promillegrenze für E-Scooter-Fahrer heraufgesetzt, würden weniger Fahrerlaubnisse gem. § 69 Abs. 2 StGB entzogen werden und es würde noch weniger MPU geben. Das wäre ein gefährlicher Trend. Es gibt ohnehin viel zu wenige MPU, weil die Fahrerlaubnisbehörden von den meisten Fällen, die eine Anordnung rechtfertigen würden, keine oder zu spät Kenntnis erhalten.

Wann sind Patienten fahrunsicher und wann sind sie fahrungeeignet? Mit dieser Frage beschäftigt sich unter anderem der AK VI, der insbesondere das Arzt-Patienten-Verhältnis in seinen Mittelpunkt stellt. Wäre eine Meldepflicht für bestimmte, besonders sicherheitsrelevante körperliche und geistige Erkrankungen sinnvoll und zulässig? Diese Frage behandelt die grundlegende Problematik der ärztlichen Schweigepflicht, die bislang noch immer die Meldung auch gefährlichster fahreignungsrelevanter Krankheiten vom Arzt an die Fahrerlaubnisbehörde und Polizei verhindert hat. Dabei könnten derartige Mitteilungen womöglich Leben retten, und zwar auch das Leben derjenigen Patienten, die mit großen Sicherheitsrisiken als Fahrerinnen und Fahrer unterwegs sind.

Letztendlich behandelt auch der AK VII mit der Fahrtenbuchauflage ein sicherheitsrelevantes Thema. Eine Fahrtenbuchauflage ist gegenüber dem Fahrzeughalter möglich, wenn es unmöglich war, den Fahrzeugführer vor Eintritt der Verjährung eines Verkehrsverstoßes festzustellen, also in den Fällen, in denen die Behörde nicht dazu in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen Maßnahmen ergriffen hat. Regelmäßig soll eine Fahrtenbuchauflage als Maßnahme zur vorbeugenden Abwehr von Gefahren für die Sicherheit des Straßenverkehrs gewährleisten, dass zumindest für die Dauer der Verpflichtung, ein Fahrtenbuch zu führen, mit dem Fahrzeug begangene Verstöße geahndet und der Fahrer beziehungssweise die Fahrerin ohne Schwierigkeiten festgestellt werden können. Außerdem soll den Fahrerinnen und Fahrern des Fahrzeugs mit einer Fahrtenbuchauflage vor Augen geführt werden, dass sie im Falle der Begehung eines Verkehrsverstoßes damit rechnen müssen, aufgrund ihrer Eintragung im Fahrtenbuch als Täterinnen und Täter ermittelt und mit Sanktionen belegt werden können. Allein dies sollte schon zur Einhaltung der Verkehrsvorschriften ermahnen. Allerdings wird dieses Instrument von den Verkehrsbehörden nur sehr selten genutzt, weil es – ohne große Aussicht auf Erfolg – der Verwaltung erst einmal viel Arbeit macht und Zeit kostet.

Fazit

Ob ein VGT erfolgreich ist oder nicht, misst sich an der praktischen politischen Umsetzung seiner Empfehlungen. Einige Themen werden allerdings von der Verkehrspolitik und den Ministerien – im Gegensatz zu den Empfehlungen des VGT – nicht vorrangig angesehen und ignoriert. So geschehen bislang beim Thema der Halterhaftung (AK II), das nun zum sechsten Mal (!) vom VGT aufgegriffen wird. Es läuft deshalb langsam Gefahr, sich zum „Running Gag“ des VGT zu entwickeln, wenn nicht irgendwann einmal ein greifbares Ergebnis vorgewiesen werden kann, das dazu geeignet ist, die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Der Vorvorgänger des aktuellen Bundesministers für Verkehr, Alexander Dobrindt, ignorierte jedenfalls geflissentlich sogar die Ergebnisse eines eigens vom VGT angeregten und tatsächlich auch durchgeführten Forschungsprojekts zur Reform der Kostentragungspflicht des § 25a StVG, die ohne juristische Probleme durch einen Federstrich des Gesetzgebers auf den fließenden Verkehr hätte erweitert werden können.
Die beiden AK I und III beschäftigen sich mit wirklichen Zukunftsthemen, wenn sie bewusst die technischen Fähigkeiten automatisierter und autonomer Fahrzeuge in ihren Mittelpunkt stellen. Das ist ein zukunftsweisendes Konzept auch für den VGT, der somit am Puls der Zeit bleibt.

Der VGT muss aber auch aufpassen, das Stilmittel der Polemik nicht zu übertreiben, wenn die für den AK VII im Arbeitsthema ohne Fragezeichen angekündigte Einordnung der vorhandenen Fahrtenbuchauflage aus § 31a StVZO als eine „Halterhaftung durch die Hintertür“ bezeichnet und damit potenziell in ein negatives Licht gerückt wird.
Man darf erneut gespannt darauf sein, wie die angekündigten Themen tatsächlich diskutiert werden und vor allem, welche Empfehlungen an einen vielfach fachlich desinteressierten Gesetz- und Verordnungsgeber gerichtet werden. Das mediale Interesse ist jedenfalls nach wie vor hoch, was der Bedeutung des Themas der Verkehrssicherheit in jedem Fall gerecht wird.

Weiterführende Links
Website Verkehrsgerichtstag
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EU-Kommission und Enforcement
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.