//Müllers Kolumne: Fahrradland Deutschland?

Müllers Kolumne: Fahrradland Deutschland?

Am 22. Juli veröffentlichte das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) eine neue „Radverkehrsinitiative“ und verabschiedete zuvor einen „Radverkehrsplan 3.0“. Deutschland soll dadurch zum „Fahrradland 2030“ mutieren. Große Worte für einen tatsächlich immens wichtigen Verkehrsbereich. Doch was steckt dahinter? Wer war an diesem Plan beteiligt? Was soll auf welchen Wegen erreicht werden?

Mehr Radwege, weniger Unfälle

„Mehr Radwege, mehr gefahrene Kilometer und weniger Radunfälle“ sollen es werden – hehre und inhaltlich sicherlich richtige Ziele. Doch kann der Bund diese Ziele überhaupt erfüllen?
Für die Planung und den Bau von Radwegen sind in Deutschland die Kommunen, also Landkreise, Städte und Gemeinden zuständig. Der Bund bietet allenfalls den Rechtsrahmen für den inhaltlichen Ablauf von Planungen.
Wie viele Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt werden entscheiden die Bürgerinnen und Bürger, auch über den Umstieg auf das Fahrrad entscheiden sie selbst. Sie richten sich bei dieser Entscheidung natürlich nach objektiven Gründen wie der Radwegeinfrastruktur, deren Sicherheit und Komfort. Der Bund darf den Umstieg politisch empfehlen.
Weniger Radunfälle auf deutschen Straßen sind sicherlich die schwierigste zu erreichende Aufgabe. Der Bund könnte dazu in der StVO Regeln verankern, die Radunfälle und damit potenzielle Unfallopfer vermeiden helfen. Für die Umsetzung aber stehen allein die Verkehrsteilnehmer in der gegenseitigen Verantwortung. Der Bund vermeidet nicht einen einzigen konkreten Verkehrsunfall, sondern kann allenfalls Rahmenbedingungen verbessern.
Die großen Worte des BMDV entpuppen sich also bei näherer Betrachtung als eine politische Mogelpackung, bei der das Etikett schön anzuschauen ist, aber der Inhalt hauptsächlich aus warmen Worten besteht.

Die „überraschende“ Zunahme des Radverkehrs – und deren Folgen

Die Verkehrspolitiker in Bund und Ländern scheinen von der Zunahme des Radverkehrs überrascht worden zu sein – jedenfalls läuft die Exekutive der tatsächlichen Entwicklung beim Erstellen eines zeitgemäßen Normenkataloges und einer brauchbaren Reform der Infrastruktur hinterher. Mit der Zunahme des Radverkehrs steigen nämlich automatisch auch die Unfallzahlen und die Anzahl der Verunglückten, wozu unter anderem auch die räumliche Enge bei gleichzeitiger Implementierung neuer Mobilitätsformen wie zum Beispiel Elektrokleinstfahrzeugen (eKF) beiträgt.
Der Radverkehr auf deutschen Straßen hatte in den letzten Jahren enorme Zuwächse. Allein die Entwicklung der zurückgelegten Wegelängen und Tagesstrecken ist zwischen den Jahren 2002 und 2017 deutlich gewachsen. Die Fahrradfreundlichkeit liegt laut den Ergebnissen des vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) durchgeführten und vom damaligen Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) geförderten Fahrradklimatest für das Jahr 2020, allerdings nur bei einem Schulnotenwert von 3,9.
Insgesamt kamen im Jahr 2020 im Straßenverkehr 426 Menschen, die auf einem Fahrrad unterwegs waren, ums Leben, darunter 142 auf einem Pedelec. Im Vergleich zu 2019 stieg die Zahl der verunglückten Fahrradbenutzer (einschließlich Pedelec) um 5,6 Prozent. Von den insgesamt 91.533 Fahrradunfällen mit Personenschaden waren 28,3 Prozent Alleinunfälle.
Diese Zahlen sind alarmierend und alle staatlichen Gewalten stehen in der Verantwortung, die Sicherheit zu erhöhen, um Leben zu schützen. Diese Prämisse gilt selbstverständlich auch für die Verkehrsteilnehmer selbst.

Viele Wege führen nach Rom

Im Zuge einer verkehrssicheren Gestaltung von Radverkehrswegen bedarf es einer sorgfältigen, interdisziplinären Planung. Empfehlenswert ist insbesondere für die politisch ins Auge gefassten Radschnellwege und Radfernverbindungen die Einrichtung von Verkehrsversuchen in mehreren Bundesländern und zwischen den Bundesländern, um praktische Erfahrungen sammeln zu können. Diese Verkehrsversuche sollten unter einem sorgsam organisierten Monitoring erfolgen, deren regionale Ergebnisse überregional zusammengefügt und analysiert werden müssten. So könne man über das Instrumentarium des „best practice“ zu gemeinsamen Lösungen gelangen, die einen wirklichen Verkehrsfortschritt für alle tangierten Bereiche erlangen können. Dieser Prozess müsste allerdings verkehrspolitisch forciert werden, weil die aktuelle (verkehrs-)politische Lage ein solch konzertiertes Vorgehen dringend erfordert.
Länder und Kommunen sind für die Verkehrsüberwachung und die Ahndung von Verkehrsverstößen zuständig. Ein zentrales, gemeinsam und systematisch erarbeitetes Konzept der Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen gibt es bislang nicht, sollte es aber dringend geben, weil allenthalben mit den gleichen Problemen gekämpft wird. Eine besonders effiziente Art der Überwachung der Verkehrsverstöße von Radfahrenden gelingt durch Fahrradstaffeln der Polizei. Diese überwachende Tätigkeit wurde unlängst von der Unfallforschung der Deutschen Versicherer (UDV) evaluiert. In einem Vorher-/Nachher-Vergleich zeigte es sich, dass die Verkehrsverstöße von Radfahrenden allesamt zurückgingen, teilweise um 59 Prozent. Während die Unfallzahlen unter Beteiligung von Radfahrenden insgesamt stiegen, gingen die Verkehrsunfälle mit schwerem Personenschaden deutlich zurück.
Die Überwachung der Einhaltung von Verkehrsregeln ist inhaltlich untrennbar verbunden mit der Sanktionierung festgestellter Verstöße. Objektiv durch die Exekutive durchgeführte Maßnahmen und subjektiv von den Verkehrsteilnehmern erlebte Verkehrsüberwachung und Sanktionierung ergeben eine Sanktionswahrscheinlichkeit, die insbesondere für viele Autofahrer immer noch das Maß aller Dinge ihrer Normtreue bedeuten. Ist dieses Verhältnis gestört, verbleibt es auf den Straßen beim Status quo und die Verkehrssicherheit ist der Verlierer.

Fazit

Die Ahndung regelwidrigen Verhaltens sowohl von Radfahrerenden, als auch von anderen Verkehrsteilnehmenden sollte stets von Aufklärungsarbeit und entsprechende Sicherheitskampagnen begleitet werden.
Damit Sanktionen aber ihre vorbestimmte präventive Wirkung entfalten können, müssen die Höhe der Bußgeldbeträge und die Dauer der Fahrverbote das Gefährdungspotenzial des jeweiligen Verkehrsverstoßes angemessen widerspiegeln. Das Verkehrsverhalten und das Verkehrsklima zwischen allen Verkehrsteilnehmenden muss dabei durch eine von der Gesellschaft getragene Kombination aus innovativer Kommunikation und Verkehrserziehung sowie konsequenter Überwachung und Ahndung verbessert werden.
Die StVO sollte systematisch in Richtung einer Konfliktvermeidung zwischen Radverkehr und motorisiertem Verkehr überprüft und verbessert werden.
In der Verkehrsüberwachung sollte jede Polizeidienststelle in städtischen Bereichen über eine Fahrradstaffel zur spezifischen Überwachung des Radverkehrs und der sicherheitsrelevanten Verstöße im ruhenden Verkehr verfügen.
Die Verkehrssicherheit geht uns alle an und daher sollte jeder bei sich selbst und seinem Verkehrsverhalten damit beginnen, sich kritisch zu reflektieren und nicht permanent mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Der Bund mag mit seinem BMDV und dem Verkehrsminister dabei gerne appellieren und die eine oder andere finanzielle Förderung locker machen, aber seiner Verantwortung wird er dadurch nicht gerecht; denn Verkehrssicherheit wird vor Ort produziert, dort, wo die Menschen leben. Dort kann der Bund gemeinsam mit den Ländern gerne finanziell deutlich besser als bisher unterstützen, damit Verkehrswachten und Verbände bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit gefördert werden können.
Wenn dann auch noch die Kommunen ein Recht in der StVO erhalten könnten, die Radfahrerinnen und Radfahrer sowie die Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer, die sich auf ihren kommunalen Straßen bewegen, anzuhalten und auf Einhaltung der Verkehrsnormen zu kontrollieren, wäre der Sicherheit des Straßenverkehrs richtig viel geholfen. Ein solches Recht hat nämlich bislang nur die Polizei in der relevanten Norm des Paragraph 36 StVO (Zeichen und Weisungen der Polizeibeamten), die ein wenig Entlastung überall gut vertragen könnte und sicherlich sehr gerne durch eine entsprechende Qualifizierung der Kräfte im Kommunalen Vollzugsdienst beitragen würde.

Weiterführende Links

Forschungsbericht von infas, Mobilität in Deutschland – MID – Analysen zum Radverkehr und Fußverkehr, Bonn 2019
hier klicken
Fahrradklimatest des ADFC
hier klicken
Destatis, Verkehrsunfälle – Kraftrad- und Fahrradunfälle im Straßenverkehr 2020, Wiesbaden 2021
hier klicken

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.

Foto: Michael Bußmann/Pixabay