//Müllers Kolumne: Recht auf Tempo?

Müllers Kolumne: Recht auf Tempo?

417 km/h sind mehr als eine bloße Ablesung eines digitalen Tachometers. Sie sind das Ergebnis eines zweifelhaften Weltrekordversuchs, den ein tschechischer Autofahrer mit einem der weltweit schnellsten und PS-stärksten Automobile auf der Autobahn A 2 im Juli 2021 zwischen Berlin und Magdeburg unternommen hat. Und es ist das Verkehrsthema, das die Öffentlichkeit im Januar am meisten beschäftigt hat.
Ich möchte es in dieser Rubrik einmal kritisch bewerten, vor allem, weil die Fahrt auf einem Autobahnabschnitt geschah, auf dem die Geschwindigkeit nicht durch ein Verkehrszeichen reglementiert war. Die allermeisten Autofahrer werden deshalb in ihrer Bewertung zu dem (vorschnellen) Ergebnis kamen, dort dürfe Jedermann so schnell fahren, wie er es sich zutraue und es sein Auto fahrzeugtechnisch und kräftemäßig hergebe. Schlussendlich sei doch das Ausbleiben eines Unfalls der Beweis dafür, dass alles rechtens gewesen sei – ein Trugschluss, wie noch zu beweisen sein wird.

Die Motivation und deren Hintergrund

Bei dem Fahrer handelt es sich um einen der materiell reichsten Männer der tschechischen Republik. Er hatte bereits vor Jahren mit einem anderen Sportwagen aus seiner gut gefüllten Garage einen solchen Weltrekordversuch auf einer deutschen Autobahn unternommen. Seine Ziele waren in beiden Fällen, einen neuen Weltrekord für eine Höchstgeschwindigkeit auf einer öffentlichen Straße aufzustellen.
Erst im Januar 2022 stellte er zwei Videos über seine Rekordjagd auf YouTube online, also gut ein halbes Jahr, nachdem seine Fahrt mit mehreren Kameras an verschiedenen Punkten seiner Fahrt von seinem privaten Filmteam festgehalten worden war.
Neben der, nennen wir es einmal „sportlichen“ Ambition, hatte der Fahrer auch eine ethische Motivation. Er ist bekennender Adventist und ließ in seinen beiden Videos an deren Ende filmen, wie er mit seinem Team gemeinsam mit gesenkten Köpfen einen Gebetskreis bildete. Er bedankte sich dabei bei seinem Gott dafür, dass er in seinem Leben auch „Spaß“ haben dürfe und alles reibungs- und gefahrlos abgelaufen sei. Ob er sein öffentlichkeitswirksames Gebet tatsächlich an Gott, den Schöpfer und Vater von Jesus richtete oder an seinen persönlichen Gott, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Es ist eine theologische Frage, die hier nicht beantwortet werden kann.
Wohl aber muss die Frage gestellt werden, ob eine solche „sportliche“ Motivation überhaupt zulässig ist und wie eine solche Motivation bewertet werden muss. Damit kommen wir zum verkehrsrechtlichen Hintergrund des Geschehens.
Mit welcher Motivation der Fahrer seine inzwischen mehr als 1,5 Millionen mal angeklickten Videos der interessierten Welt online und kostenlos zur Verfügung gestellt hat, mag sich jeder Leser selbst ersinnen – es dürfte jedenfalls keine der Verkehrssicherheit dienende Motivation sein, so viel ist sicher!

Verkehrsrechtlicher Hintergrund

1. Fernstraßenrecht
Da die Fahrt auf einer deutschen Autobahn stattfand, muss zunächst einmal die Frage gestellt werden, ob diese öffentliche Verkehrsfläche für einen solchen Versuch genutzt werden durfte. Das Ergebnis ist negativ. Die Autobahn darf für einen solchen Rekordversuch nicht genutzt werden. Der Grund dafür liegt im Straßenrecht begründet.
Auf deutschen Autobahnen gilt das Fernstraßenrecht des Bundes, das im Bundesfernstraßengesetz (FstrG) für sämtliche Bundesfernstraßen, also Bundesautobahnen und Bundesstraßen, geregelt ist. Nach dessen § 1 Absatz 1 Satz 1 ist der Gebrauch der Bundesfernstraßen jedermann im Rahmen der Widmung und der verkehrsbehördlichen Vorschriften zum Verkehr gestattet. Diese Nutzung nennt sich rechtstechnisch „Gemeingebrauch“ und bedeutet inhaltlich, dass die Nutzung vorwiegend zu Verkehrszwecken erfolgen muss, das heißt um Personen oder Güter vom Ausgangsort zum Bestimmungsort zu transportieren. Eine Nutzung zu anderen Zwecken – wie etwa dem eines Versuchs, einen Geschwindigkeitsweltrekord aufzustellen – verlässt den erlaubten Rahmen des Gemeingebrauchs und wird dadurch zur „Sondernutzung“. Eine solche „Sondernutzung“ ist allerdings gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 FStrG erlaubnispflichtig, das heißt, die zuständige Behörde prüft, ob sie eine solche Ausnahme gestatten kann, setzt eine Gebühr fest und bescheidet den Antragsteller. Durch einen solchen Antrag würde also ein solcher Rekordversuch behördlich bekannt werden und die betreffende staatliche Behörde säße aus Gründen der Verkehrssicherheit mit im Boot, wenn im Rahmen der Rekordfahrt etwas Unvorhergesehenes wie ein Personen- und/oder Sachschaden geschähe.

Es ist nicht zu erwarten gewesen, dass eine solche Rekordfahrt im fließenden Verkehr von einer deutschen Behörde genehmigt worden wäre. Deshalb ist eine solche Fahrt ordnungswidrig im Sinne von § 23 FStrG und kann als Sanktion ein Bußgeld in Höhe von bis zu 500 Euro nach sich ziehen. Das dürfte einen Multimillionär kaum schmerzen, zumal die Ordnungswidrigkeit auch verjährt sein dürfte, weil die unerlaubte Sondernutzung behördlich nicht innerhalb von 6 Monaten geahndet wurde. Allerdings wäre unter Umständen eine wohl deutlich schmerzhaftere Einziehung des Tatfahrzeugs möglich, wenn eine fortbestehende Gefahr vorliegt (gem. §§ 31, 22, 27 OWiG).

2. Ordnungswidrigkeitenrecht
Die meisten Verkehrsordnungswidrigkeiten verjähren bekanntlich drei Monate nach Begehung der Handlung (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG), sodass ordnungswidriges Handeln während der Fahrt im Juli verjährt wäre. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass das Video erst sechs Monate nach der Fahrt online gestellt worden ist.
Nur der Vollständigkeit halber soll gesagt werden, dass der Fahrer, der seinen Rekordversuch während des „Normalbetriebs“ einer deutschen Fernstraße absolvierte, den Hauptfahrstreifen des dreistreifigen Streckenabschnitts nicht nutzte, sondern ausschließlich den mittleren und den linken Fahrstreifen, teilweise sogar mittig zwischen beiden befuhr. Dieser Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO ist in Anbetracht der noch folgenden Delikte verkehrsjuristisch „geschenkt“.
Deutlich schwerer wiegt der offenkundige Verstoß gegen die allgemeine Geschwindigkeitsvorschrift des § 3 Abs. 1 StVO, die auch auf so genannten „freigegebenen“ Autobahnabschnitten gilt, die nicht durch das Verkehrszeichen 274 in der zulässigen Höchstgeschwindigkeit begrenzt sind.
Nach dieser Vorschrift darf, wer ein Fahrzeug führt, dieses nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht. Das bedeutet, der Fahrer muss sicher sein, dass er die gefahrene Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug angepasst wählt.

Die Fahrt fand nach eigenem Bekunden des Fahrers auf YouTube gegen 4:50 Uhr an einem Sonntag statt und sollte bei besten Wetter- und Sichtbedingungen nur stattfinden. Nicht vorausberechnen konnte der Fahrer allerdings das Verkehrsverhalten der anderen auf der Autobahn fahrenden Fahrer, also die Verkehrsbedingungen. Auch das Fahrverhalten seines Autos konnte er für die angepeilte Spitzengeschwindigkeit (bei 420 km/h regelt die Motorelektronik des Fahrzeugs die Geschwindigkeit ab) ebenso wenig hinsichtlich etwa notwendig werdender Ausweich- und Bremsvorgänge berechnen wie seine eigenen Fahrfähigkeiten – beide Faktoren sind weltweit noch nie zuvor in der Verkehrsrealität erprobt worden. Hinzuzufügen ist die Tatsache, dass der Fahrer über keine Rennfahrerlizenz der FIA verfügen dürfte, die einzig und allein diese Lizenzen vergibt und einem 58jährigen tschechischen Privatfahrer eine solche Lizenz nach den eigenen Statuten gar nicht erteilen dürfte -und sei er noch so reich.
Der Fahrer hatte demnach drei Unsicherheitsfaktoren hinsichtlich seiner Fahrgeschwindigkeit in Kauf genommen, ohne diese vorausberechnen zu können – von Unwägbarkeiten wie plötzlich auftauchenden Hindernissen ganz zu schweigen.
Aber – wie gesagt – auch eine solche Ordnungswidrigkeit wäre verjährt.

3. Verbotenes Kraftfahrzeugrennen
Nach der Auslegung des Bundesgerichtshofes zum seit Herbst geltenden Straftatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB kann der Straftatbestand eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens auch in der Tatalternative eines so genannten „Alleinrennens“ begangen werden. Voraussetzungen dafür sind:
• Das Führen eines Kraftfahrzeugs,
• mit nicht angepasster Geschwindigkeit,
• in grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Begehung und
• um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.
Zäumen wir das juristische Pferd einmal ausnahmsweise von hinten auf.
„Um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“ war das erklärte Ziel des Fahrers. E ist nicht nur als gegeben anzunehmen, sondern liegt rein strafprozessual sogar als ein Geständnis vor, ebenso wie das Führen eines Kraftfahrzeugs.
Die „nicht angepasste Geschwindigkeit“ wurde bereits als vorliegend geprüft; denn der Straftatbestand bezieht sich inhaltlich auf das Merkmal der Ordnungswidrigkeit. Es verbleiben demnach das „grob verkehrswidrige“ und das „rücksichtslose“ Verhalten.

Ein Fahrer handelt nach der Rechtsprechung der Strafjustiz dann „grob verkehrswidrig“, wenn er mit seinem Verhalten in besonders gefährlicher Weise vom pflichtgemäßen Verhalten abweicht. Ob eine solche grob verkehrswidrige Gesinnung vorgelegen hat, ist aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Tatumstände zu prüfen. Dabei ist die besondere Gefährlichkeit des an den Tag gelegten Fahrverhaltens an Hand objektiver Kriterien zu überprüfen. Dieser Aufgabe stehen nun die Polizei in Sachsen-Anhalt und die zuständige Staatsanwaltschaft gegenüber. Sie werden diese Aufgabe nicht ohne sachverständige Beratung lösen können, denn eine solche Fahrt gab es noch nie auf einer deutschen Straße.
Recht einfach ist demgegenüber das Merkmal „rücksichtslos“ zu prüfen, weil nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus 1954 als „rücksichtslos“ gilt, wer sich im Straßenverkehr aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetzt oder aus Gleichgültigkeit von vornherein Bedenken gegen sein Verhalten nicht aufkommen lässt. Bedenken gegen sein Fahrverhalten hatte der Fahrer nicht, denn sonst hätte er seine Rekordjagd nicht unternommen. Und: Was kann eigensüchtiger sein, als den Versuch eines Geschwindigkeitsweltrekordes im fließenden Normalverkehr auf einer nicht abgesperrten Strecke und ohne behördliche Erlaubnis zu unternehmen?

4. Fahreignung
Hinsichtlich des Charakters des Fahrers sind einige Fragezeichen aufgetaucht. Seine Motivationslage passt nicht zur von der Bundesregierung unisono vertretenen „Vision Zero“, also dem Leitprinzip der Verkehrssicherheit. Er lieferte ein schlechtes Beispiel für andere Fahrer, denen nun ein vorläufiger Freibrief hinsichtlich weiterer Weltrekordversuche ausgestellt wurde. Die Fahrerlaubnis-Verordnung würde jedenfalls in ihrem § 11 Absatz 3 den einen oder anderen Untersuchungsgrund für eine medizinisch-psychologische Untersuchung der Fahreignung bereithalten, wenn man sich noch etwas näher mit dem Fall und dem Fahrer beschäftigen würde.

Resümee

Wir dürfen alle gespannt darauf sein, wie sich die Strafjustiz aus der Affäre ziehen wird. Alles andere als eine Anklage zu diesem Verhalten des Fahrers würde mich zwar wundern, aber nicht überraschen. Sicherlich wird die Justizministerin aus Sachsen-Anhalt, der gegenüber die Staatsanwälte ihres Bundeslandes weisungsabhängig sind, ein Wörtchen mitreden. Inzwischen ist der Fall auch zu einem Politikum geworden.
Am Rande hat der Fahrer seinem Götzen der freien Geschwindigkeitswahl ohne allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen einen Bärendienst erwiesen, denn genau dieses frühere Ziel der Grünen hatte ja der neue Bundesverkehrsminister der FDP abgeräumt. Nun liegt dieser Wunsch wieder auf dem Tisch, und zwar präsenter als je zuvor.

Weiterführende Links
Video auf YouTube
https://www.youtube.com/watch?v=czED2FSc508&t=326s
https://www.youtube.com/watch?v=7pg1hhW5qhM

Bundesfernstraßengesetz
https://www.gesetze-im-internet.de/fstrg/__7.html
https://www.gesetze-im-internet.de/fstrg/__8.html

Urteil des BGH zum Alleinrennen
https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Seite=1&nr=120439&pos=36&anz=662

Foto: Sponchia/Pixabay

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.