Notbremsassistenzsysteme für Lkw können unbestritten einen großen Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit leisten, indem durch die Verhinderung von Kollisionen Menschenleben gerettet und deren Gesundheit vor Schäden bewahrt wird. Es handelt sich dabei um Fahrerassistenzsysteme, die jederzeit aktiviert sind und daher kritische Verkehrssituationen mittels ihrer Sensorik detektieren können. Damit sind ihre Fähigkeiten jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft; denn sie warnen ihre Fahrer frühzeitig und verschaffen ihnen dadurch wertvolle Zeit zum Reagieren.
Im Januar 2019 forderte der 57. Deutsche Verkehrsgerichtstag die Bundesregierung dazu auf, in den internationalen Gremien weiterhin darauf hinzuwirken, dass Notbremsassistenten von Lkw und Bussen dem neuesten Stand der Technik entsprechen sollten, damit fahrende Fahrzeuge vor einem Stauende zum Stehen kommen und sich abschaltbare Systeme zeitnah automatisch wieder reaktivieren müssen.
Studie zum Notbremsassistent
Die Bundesanstalt für Straßenwesen hatte im Jahr 2019 die Aufgabe, zu überprüfen, ob die technischen Anforderungen für Notbremsassistenz noch zeitgemäß sind und ob gegebenefalls ein Überarbeitungsbedarf besteht. Anfang 2020 wurden die Ergebnisse der interessanten Studie vorgelegt und werden seither fachlich diskutiert.
Parallel zu den verkehrspolitischen Überlegungen liefen zwischenzeitlich diverse Strafprozesse vor erstinstanzlichen Amtsgerichten. Ein besonders öffentlichkeitswirksames Strafverfahren lief vor dem Amtsgericht in Mannheim und endete mit einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe für einen Lkw-Fahrer, der ungebremst in ein Stauende gefahren war und dadurch zwei Menschen getötet und elf verletzt hatte. Sein Mercedes Actros war zwar mit dem modernsten Notbremsassistenten von Daimler ausgestattet gewesen, aber dennoch hatte die Technik versagt und konnte den Tod und das Leiden der Opfer sowie ihrer Hinterbliebenen nicht verhindern.
Im Herbst 2020 trafen sich die Verkehrsminister aus Bund und Ländern virtuell zu ihrer zweiten diesjährigen Konferenz und diskutierten abermals das verkehrspolitische Schicksal der allseits als sinnvoll erachteten Notbremsassistenten. Man begrüßte die vom Bundesverkehrsministerium angestoßene Initiative, die entsprechende technische Vorschrift (UN-Regelung Nr. 131) auf internationaler Ebene innerhalb einer noch einzurichtenden Expertengruppe zu diskutieren und gleichzeitig deren Vorsitz anzustreben. Zudem befürworteten die 16 Länderminister den Entwurf einer nationalen StVO-Vorschrift, die das Abschalten von Notbremsassistenzsystemen durch den Fahrer ab einer Geschwindigkeit von über 30 km/h verbieten soll.
Politik ist gefordert
So weit so gut bzw. besser so schlecht; denn wir könnten politisch schon erheblich weiter vorangeschritten sein. Im verkehrspolitischen und nun auch verkehrsrechtlichen Hick-Hack zeigt sich einmal mehr die Langatmigkeit politischer Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse. Die Fahrzeugtechnik geht voran und die Verkehrspolitik hechelt ihr kurzatmig hinterher. Dabei kann man noch von Glück reden, wenn auf der Arbeitsebene der Referate in den Ministerien die Sachbearbeiter noch dieselben sind, weil es sich dabei regelmäßig lediglich um Durchlaufposten handelt, also um kurzzeitig zu erklimmende Sprossen auf der persönlichen Karriereleiter von Referenten.
Leidtragende sind die Verkehrsteilnehmer, speziell die Lkw-Fahrer, deren Fahrzeuge technisch nicht so sicher sind, wie sie sein könnten. Dabei soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass der so genannte „Marktdurchsatz“, also das Tempo des Durchsetzens einer neuen innovativen Technologie, Jahrzehnte benötigt. Sprich: Wird eine Einführung einer verpflichtenden technischen Lösung nach abgeschlossener Diskussion politisch zum Stichtag X beschlossen, liegt die Marktdurchdringung zu einem akzeptablen Prozentsatz vielleicht zwei Jahrzehnte danach. Nicht unwesentlich ist dabei auch der Faktor der Solvenz der Speditionen, die ja schließlich erst einmal ihre Fahrzeuge umrüsten oder gar neue Fahrzeuge anschaffen müssten. Ohne wirtschaftliche Anreize beziehungsweise EU-weit abgesegnete steuerrechtliche Vergünstigungen wird das verkehrspolitische Großprojekt nicht effizient gefördert werden können.
„Gut Ding will Weile haben“ trifft es nicht wirklich, wenn die neue Technik bereits seit vielen Jahren auf dem Markt ist, wie unser Aufmacherbild (Daimler Safety Truck Präsentation) aus dem Jahr 2008 zeigt. Der Appell richtet sich daher nicht nur an die oft viel zu zögerlich handelnden Verkehrspolitiker in Bund und Ländern, sondern auch an die Ingenieure in der Automobil- und Zulieferindustrie, die sich im dauerhaften Kampf um Marktanteile befinden, und zwar weltweit. Ob der Appell fruchten wird? Man weiß es zwar nicht, aber soll man deswegen die Hoffnung aufgeben? Ich denke nicht.
Weiterführende Links:
Initiative des DVR „Bester Beifahrer“ zur Förderung von Fahrerassistenzsystemen
https://bester-beifahrer.de/fahrerassistenzsysteme/notbremsassistent/
Empfehlungen des 57. Deutschen Verkehrsgerichtstages
https://www.deutscher-verkehrsgerichtstag.de/images/pdf/6AK_empfehlungen_57_vgt.pdf
„Lkw-Notbremssysteme“, Bericht der Bundesanstalt für Straßenwesen, Reihe Fahrzeugtechnik, Heft 133
https://bast.opus.hbz-nrw.de/opus45-bast/frontdoor/deliver/index/docId/2329/file/F133.pdf
Reportage von Jan Bergrath zum Prozess am Amtsgericht Mannheim
https://www.eurotransport.de/artikel/notbremsassistent-lkw-fahrer-kassiert-bewaehrungsstrafe-10705196.html
Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.
Foto: Daimler