//Müllers Kolumne: Pop-up-Radwege

Müllers Kolumne: Pop-up-Radwege

Eine pfiffige Lösung für die Verkehrssicherheit oder gefährlicher Unsinn?

Ist es nur eine Modeerscheinung oder nimmt die Bundeshauptstadt mit ihren acht Pop-up-Radwegen (temporäre Radfahrstreifen) ein Stück Zukunft der urbanen Mobilität vorweg?

In jedem Fall haben diese Radwege seit ihrer quasi über Nacht erfolgten Einrichtung für Furore gesorgt, und zwar zeitgleich bei begeisterten Radfahrern und sich übervorteilt gefühlten Autofahrern. Die alte, zumeist konfrontativ und unversöhnlich geführte Debatte um die Verteilung der knappen Verkehrsflächen hatte neue Nahrung erhalten.

Als dann am 7. September 2020 das Verwaltungsgericht Berlin einem Antrag eines Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses im einstweiligen Rechtsschutz folgte und die Rechtswidrigkeit der neuen Radfahrstreifen erklärte, schien die Rechtslage vorläufig geklärt. Die Berliner Senatsverwaltung für Verkehr legte eine Woche danach Beschwerde zum OVG Berlin-Brandenburg ein und kam der Aufforderung des Verwaltungsgerichts, die Radfahrstreifen unverzüglich zu entfernen nicht nach. Mit ihrer Rechtsansicht, es sei „kein anderer Verkehrsteilnehmender in seinen Grundrechten verletzt, wenn Radwege angeordnet werden“ stellt sich die Berliner Senatsverwaltung indessen außerhalb des Verkehrsrechts und beweist – gelinde gesagt – ein merkwürdiges, weil sehr einseitiges Rechtsverständnis.

Dabei steht außer Frage, dass die Förderung des Radverkehrs ein sehr löbliches verkehrspolitisches Ziel ist, das allerorten unbedingt gefördert werden sollte. Aber eben in einem rechtmäßigen Verfahren, das die Rechte aller Verkehrsteilnehmer berücksichtigt und allen Seiten Gehör verschafft. Dazu gibt es im Verkehrsrecht die zentrale Vorschrift des § 45 StVO. Danach dürfen Radwege generell nur dort angeordnet werden, wo Verkehrssicherheit, Verkehrsbelastung und/oder der Verkehrsablauf ganz konkret auf eine Gefahrenlage hinweisen und die Anordnung damit zwingend erforderlich ist. D. h. es müssen vor einer Einrichtung von Radfahrstreifen Messungen stattfinden und deren Ergebnisse analysiert werden. In einem zweiten Schritt müssen diese Ergebnisse abgewogen und mit den tangierten Rechten betreffender Gruppen von Verkehrsteilnehmern in ein vernünftiges Verhältnis gesetzt werden. Letztlich müssen in einem sauberen und transparenten Verwaltungsverfahren dann drittens auch noch die beteiligten Gruppen angehört werden. Erst dann darf viertens als Ergebnis einer Gesamtabwägung der betreffende Radfahrstreifen verkehrsbehördlich angeordnet und mittels amtlicher Kennzeichnung auf die Straße gebracht werden.

In Berlin ließ man nolens volens die Schritte eins bis drei aus und arbeitete ergebnisorientiert im erhofften Sinne der einzig bevorteilten Gruppe, nämlich der Radfahrer, von der mit Sicherheit kein Gegenwind zu erwarten war.

Nochmals. Es geht nicht darum, diesen verkehrspolitischen und verkehrsrechtlichen Streit zu Lasten der einen oder anderen Gruppe zu bewerten, sondern es geht einzig und allein um eine transparente Lösung, die den geltenden Anforderungen des Rechtsstaates gerecht wird. Die Exekutive hat nicht das Recht, die verfassungsrechtlich in Artikel 20 Absatz 3 GG verbriefte Verpflichtung einseitig auszulegen, sich an Gesetz und Recht halten zu müssen. Wer behauptet, durch einen, wenn auch vorerst temporär gedachten, Entzug einer Verkehrsfläche seien die Rechte von Kraftfahrern und Fußgängern nicht negativ berührt, lebt in einer eigenen Welt, aber nicht in einer realen. Der Berliner Senat muss sich daher nicht wundern, wenn ihm juristischer und politischer Gegenwind entgegenschlägt und ist nicht gut beraten, sich wie ein bockiges Kind zu gerieren, dem man gerade das Lieblingsspielzeug weggenommen hat. Souveränität sieht anders aus.

Text und Foto: Dieter Müller

Quellen:

Gutachten Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (https://www.bundestag.de/resource/blob/709136/5a750162693ac1d6604b386f1bb381b2/WD-5-057-20-pdf-data.pdf)

Pressemitteilung Verwaltungsgericht Berlin mit Möglichkeit des Downloads der anonymisierten Entscheidung (https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.987343.php)

Pressemitteilung über Beschwerde gegen Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin (https://www.berlin.de/sen/uvk/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.988076.php)

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.