Generelles Tempolimit 130 und Vision Zero
„Vision Zero“ ist eine von CDU, CSU und SPD im aktuellen Koalitionsvertrag vereinbarte Selbstverpflichtung. Genauer sprechen die Bundespolitiker von einer „mittelfristigen Senkung der Anzahl der Verkehrstoten auf null“. Ein hehres Ziel! Aber was heißt das eigentlich, Vision Zero?
Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als alle sachlich erforderlichen politischen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anzahl der Verkehrstoten, aber auch der Verletzten, kontinuierlich und nachhaltig Jahr für Jahr zu reduzieren. Verpflichten kann sich eine Regierungskoalition allerdings nur zu Maßnahmen, die sie selbst in der Hand hat, das heißt indem sie selbst Verordnungen der Exekutive und gemeinsam mit ihrer Regierungsmehrheit Gesetze durch die Legislative auf den Weg bringt. Alle alten und neuen Maßnahmen müssten in toto und im Zusammenwirken das übergreifende Ziel verfolgen, die Verkehrssicherheit durch eine Reduktion von Unfallzahlen und Unfallschwere zu erhöhen.
Sucht man das Ziel der Verkehrssicherheit in unseren Verkehrsgesetzen und -verordnungen, so wird man vielfach fündig. Im Strafgesetzbuch, dem schärfsten Schwert des Gesetzgebers, schützt die Vorschrift des § 315b StGB die „Sicherheit des Straßenverkehrs“ vor gefährlichen Eingriffen. Im Straßenverkehrsgesetz schützt die Vorschrift des § 4 StVG sie „Sicherheit des Straßenverkehrs“ vor gefährlich handelnden Fahrerlaubnisinhabern und an zahlreichen weiteren Stellen dieses wichtigsten Verkehrsgesetzes ist die Verkehrssicherheit in vielfacher Form verankert. Auch in der Straßenverkehrs-Ordnung begegnet der Begriff der Verkehrssicherheit mehrfach, unter anderem bei den in § 23 StVO genannten sonstigen Pflichten von Fahrzeugführenden.
Vision Zero ist also zunächst einmal eine Pflicht, das Ziel der Verkehrssicherheit tief in unserem Recht zu verankern. Doch genügt das allein, um Verkehrssicherheit auch zu erreichen? Natürlich nicht; denn Verkehrssicherheit ist ein Prinzip, das verstanden und gelebt werden will, um die erwünschten Erfolge zu erreichen. Paragraphen beinhalten lediglich abstrakte Normen. Menschen müssen aber deren Inhalte begreifen und für sich als Maximen ihres Handelns im Straßenverkehr akzeptieren – in einer Demokratie sogar diejenigen Regeln, die von der Mehrheit verabschiedet wurden.
Eine dieser Regeln sollte die Berücksichtigung von Naturgesetzen sein, zum Beispiel des Power-Modells, womit erklärt wird, dass die Zahl der Unfälle mit Personenschäden progressiv mit der mittleren gefahrenen Geschwindigkeit ansteigt. Im Umkehrschluss sinken diese Zahlen von Verunglückten, wenn die Durchschnittsgeschwindigkeit durch diverse Maßnahmen abgesenkt werden kann. Diese können freiwillig sein, indem zum Beispiel Autofahrer in Städten und Gemeinden tatsächlich die Norm des § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO ernst nehmen und als ihre höchste Geschwindigkeit 50 km/h wählen. Aber Geschwindigkeitsnormen sind keine unveränderlichen Größen, sie können sogar verändert werden.
Auf dem Weg dahin gab es am 11. Mai eine denkwürdige Sitzung des Vorstandes des Deutschen Verkehrssicherheitsrates, in der sich diese wichtigste deutsche Institution für die Förderung der Verkehrssicherheit mehrheitlich dazu entschloss, der Verkehrspolitik die Einführung eines generellen Tempolimits von 130 km/h auf deutschen Autobahnen zu empfehlen. Diesem Beschluss ging eine jahrelang währende höchst streitig und bisweilen mit hitzigen Emotionen geführte Diskussion voraus. Guter demokratischer Tradition zufolge sind nun aber alle Mitglieder des DVR durch diesen Beschluss gebunden.
Adressat dieser Forderung ist zuerst die Verkehrspolitik im Bund, aber auch in den durch den Bundesrat im Gesetzgebungsprozess beteiligten Ländern, übrigens beide vertreten im Vorstand des DVR. Lassen wir uns gemeinsam überraschen, ob den markigen Worten auch starke Taten folgen!
Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten in Bautzen sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR.