Die Teilnehmer auf dem Spielfeld urbaner Mobilität werden immer mehr und sie bewegen sich mehr, aber das für den Verkehr verfügbare Terrain wächst nicht mit. Verkehrsteilnehmer zu Fuß oder auf dem Rad sowie ihre Fürsprecher in Forschung und Politik fordern eine Neuverteilung des Verkehrsraums. So stellte jetzt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat den Fuß- und Radverkehr in den Fokus seines Bonner Kolloquiums und titelte: „Wem gehört die Stadt?“. Man kann vorwegnehmen: Ein Eigentümer wurde nicht namentlich identifiziert, aber eine zukunftsträchtige Teilhabegerechtigkeit vermisst.
Mehr Platz für Radler zulasten der Autos
Prof. Dr. Walter Eichendorf, der Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrats, setzt mit der Keynote den Ton vor rund 150 Teilnehmern. „Mobilität muss neu gedacht werden“, sowohl in rechtlicher als auch in baulicher Hinsicht. Noch habe der motorisierte Individualverkehr 80 Prozent Anteil an den in Deutschland auf dem Landweg realisierten 1,2 Billionen Personenkilometern, nur werde das Auto diese Dominanz nicht für alle Zeiten behalten. Eichendorf sieht Präferenzen bei den Bürgern zugunsten steigenden Verkehrsraums für Fahrrad und ÖPNV – auch zu Lasten des Automobils.
Wer aus der Anwesenheit von Gerhard Hillebrand, dem Vorsitzenden des ADAC Schleswig-Holstein, auf eine unversöhnliche Gegenposition schloss, fand sich nicht bestätigt. Hillebrand repräsentierte immerhin – neben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) – einen der beiden „Unterstützer“ des Kolloquiums Als „ideelle Partner“ waren der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) beteiligt. Nicht weniger als 20 Prozent der im ADAC Organisierten wollen öfter Alternativen zum Auto nutzen. Der ADAC sieht es als Irrweg, das Auto ohne sinnvolle Alternativen zurückdrängen zu wollen.
Steigerung des Radverkehrs von 17 auf 30 Prozent
Aus Darmstadt kam Prof. Dr.-Ing. Jürgen Follmann, Stadt mit vielen Studenten – und vielen Fahrrädern. Der Wissenschaftler, der an der dortigen Hochschule den Schwerpunkt Verkehrswesen repräsentiert, sieht zum Jahr 2030 den Anteil des Radverkehrs von heute 17 auf dann 30 Prozent gestiegen. Er fordert, dem Auto den Raum Schritt für Schritt abzunehmen, den es sich im Lauf der Jahre angeeignet hat. In und um Darmstadt blickt man auf vielversprechende Ansätze zu Fern- und Schnellwegen – auch in die Fläche hinein. Konsequent müssen dazu Korridore für ein effizientes Radwegenetz realisiert werden. Der sportliche Professor vergisst nicht die gesundheitsfördernde Wirkung von Bewegung: „Wir fahren morgens die Kinder mit dem SUV vor die Schule und für den Rest des Tages protokollieren wir unsere Schritte.“
Verhaltenssteuerung zu nachhaltiger Mobilität will Kerstin Haarmann vom Verkehrsclub Deutschland in der Bildung verankern. Außerdem fordert sie nicht weniger als eine neu ausgerichtete Novellierung der StVO sowie den Beschluss eines Bundesmobilitätsgestzes unter Einbeziehung von Klima, Umwelt und Gesundheit. Falschparker, die oft Radler gefährden, müssen konsequent sanktioniert, Verwarnungsgelder und Gebühren für Anwohnerparkplätze erhöht werden. Gefordert wird zudem flächendeckende kommunale Parkraumbewirtschaftung. Das ideale Fahrzeug existiert dabei erst gar nicht. Beim Beispiel einer Wohnsiedlung mit 138 Wohneinheiten wären zehn quartierbezogene Carsharing-Autos die Alternative zu 138 vor jeder Tür.
Der Münchner Radentscheid fordert mehr und bessere Radwege
In München hat sich der Stadtrat 2018 der „Vision Zero“ verpflichtet, umgesetzt maßgeblich von Dr. Martin Schreiner. Vom örtlichen Radentscheid übernommen werden bauliche Radwege an allen Hauptverkehrsstraßen, die sind 2,3 Meter plus Sicherheitsabstand also 2,8 Meter breit, ein lückenloses Radvorrangnetz, radverkehrssichere Kreuzungen und Einmündungen (70 bis 75 Prozent der innerörtlichen Unfälle ereignen sich laut ADFC genau hier) sowie ein massiver Ausbau der Abstellanlagen in Quantität und Qualität, und das alles auch auf dem Altstadtring.
Nichts davon zu Lasten der Fußgänger, des öffentlichen Verkehrs oder des Baumbestands, sondern – wenn es nicht anders geht – zu Lasten der Kfz-Fahrspur oder der Parkplätze. Wer München kennt, kennt den dicht fließenden Verkehr auf den vierspurigen, teils ringförmig verlaufenden Magistralen. Diesen Platz – also zwei Fahrstreifen pro Richtung – wird es auf absehbare Zeit so nicht mehr geben.
Manche Regeln der aktuellen Verkehrswegeplanung werden nicht ausreichend umgesetzt
Jörg Ortlepp von der Unfallforschung der Versicherer fordert ebenso die Verkehrswegeplanung von außen (Bürgersteig) nach innen. Erst der Gehweg, dann Platz fürs Rad, und was dann noch vom Querschnitt verfügbar ist, wird zur Fahrbahn. Eine Regel, gegen die bei der Planung oft verstoßen wird, ist das Sichtfeld an Kreuzungen und Einmündungen bzw. Fußgängerüberwegen. Wo die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h beträgt, müsste ein Kraftfahrer vor dem Überqueren oder Abbiegen eine Strecke von 70 Metern in beide Richtungen überblicken können. Im innerstädtischen Bereich sind heute noch Stellplätze für Autos am Straßenrand viel zu nah an den Knotenpunkt herangezogen worden, so dass der querende Verkehr – eigentlich – zu spät wahrzunehmen ist. Fußgänger sind bei einem für sie an Überwegen vorgeschriebenen Mindest-Sichtfeld von 20 Metern auch nicht immer gut gestellt.
Deren Stimme erhob in Bonn Friedemann Goerl, der sich in Leipzig um die kommunale Fußverkehrsförderung kümmert und nicht vergisst, zu erwähnen, dass man dazu nicht ununterbrochen beruflich durch die Stadt flaniere. Er kümmert sich um Programme für Zebrastreifen, Stadtplätze oder Gehwegsanierung. Bürgerbeteiligungsverfahren seien hilfreich, Bürgersprechstunden – und zur praktischen Ergänzung auch professionelle Rundgänge zu Fuß. Ebenso mehr Phantasie bei der Gestaltung der Verkehrswege wünscht auch Burkhard Stork, Geschäftsführer des ADFC. Und objektiv und subjektiv sicher muss die Infrastruktur sein, die zum Radeln einlädt. Denn bei der Nutzung des Rads ist weiter Luft nach oben: Es wird zwar mehr Rad gefahren, aber andere Verkehrsträger legten in den letzten 40 Jahren auch zu, während das Fahrrad bei zehn Prozent stagnierte. Der sonst von öffentlichem Feedback wenig verwöhnte Verkehrsminister Scheuer kommt neuerdings bei Stork gut weg. Auf sein Drängen hin habe die Bundesregierung immerhin 900 Millionen Euro für Verkehr in das Klimapaket gepackt.
Der Verkehrsminister hat zusätzliche Mittel für den Radwegeausbau bereit gestellt
Scheuer will „vorhandenen Straßenraum gerechter aufteilen und mehr Platz für das Rad schaffen“. Länder und Kommunen können Geld zur Anordnung von Fahrradstraßen, zu verkehrssicherem Umbau insbesondere von den neuralgischen Punkten (Kreuzung, Einmündung) sowie für moderne Abstellanlagen und Fahrradparkhäuser abrufen. In seinem Schlusswort („Es geht doch!“) kommt DVR-Präsident Eichendorf später darauf zurück. Die Unterstützung der Politik ist gewiss, das Geld abrufbereit. Viele positive Beispiele von Städten, die den Rad- und Fußverkehr förderten, machten Hoffnung. Sein Appell ans Auditorium: „Sie müssen jetzt aktiv werden, die Politiker, den Bürgermeister ansprechen und ‚Remmidemmi‘ machen.“
Beispiele der Art hatte Irene Senfter vom Ökoinstitut Südtirol aus Bozen dabei. Die Ausdauersportlerin aus Südtirol berichtet von der „Radautobahn“ durch die Stadt als dem Herzen der Radinfrastruktur, einem Netz von nicht weniger als 53 Kilometern Länge. Eindeutige Beschilderungen, eine intuitive Fahrbahnführung sowie „intelligente“ Ampeln helfen Radlern beim sicheren Queren von Kreuzungen. Leitsysteme sorgen für leichte Orientierung. Die Polizei fördert die Verkehrssicherheit durch regelmäßige Kampagnen – und durch die Kontrollen der „Fahrradstreifen“.
Für die eigene Sicherheit im Verkehr ist jeder auch selbst mit verantwortlich
In diesem Zusammenhang ist Professor Follmann aus Darmstadt zu loben. Während in keinem Vortrag das Problem der ubiquitären Regelverstöße im Fahrradsattel angesprochenwird, fordert Follmann, dass die Polizei das nicht länger so großzügig geschehen lässt. Und er ist sogar der Einzige, der Verkehrsteilnehmer – also auch Fußgänger und Radler – in die Pflicht der nicht delegierbaren Verantwortung für sich selber nimmt: mit dem Hinweis, dass es beispielsweise durchaus gefährlich sein kann, beim Grün der Ampel neben einem startenden 38-Tonner blindlings loszustürmen.
Auch erwähnenswert: Offensichtlich blickt DVR-Präsident Eichendorf mit ausgemachter Skepsis auf die aktuellen E-Scooter-Regeln und die sich häufenden Unfälle, nicht selten geboren aus dem Übermut („Wenn man die so auf die Straße lässt, braucht man sich über die Ergebnisse nicht zu wundern“). Er ist gespannt auf die Daten zum einschlägigen Unfallgeschehen im kommenden Jahr. Die seien gegenwärtig noch in jenen der Fahrräder versteckt, aber ab 2020 selektiv erhoben.
Während die Interessen der Fußgänger vom Leipziger Goerl geschildert wurden, war die noch relativ junge und rührige Lobbyorganisation FUSS e.V. in Bonn nicht beteiligt. Sie soll aus einem Grund hier nicht unerwähnt bleiben. In jüngerer Zeit ist dort ein gewisser Norbert Sanden eingetreten, weil er sich in Fußgängerzonen vermehrt von Fahrradfahrern belästigt oder gefährdet gefühlt hat – so zum Besten gegeben bei einem Termin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel „Alle Macht den Radlern?“. Der Mann ist Geschäftsführer der ADFC Hessen und damit immerhin einer der ranghöchsten Fahrradprotagonisten in der weiteren Umgebung. Möglicherweise wächst seine Sorge noch mit der rapiden Verbreitung des Lastenfahrrads, dem grünen SUV der Fußgängerzone.
Erich Kupfer