//Müllers Kolumne: Die Tat von Magdeburg

Müllers Kolumne: Die Tat von Magdeburg

Am 20. Dezember tötete ein Autofahrer anlässlich einer Amokfahrt über den Magdeburger Weihnachtsmarkt fünf Menschen und verletzte mehr als 200 Personen. Diese Amokfahrt wirft bei aller Tragik schon jetzt Fragen hinsichtlich des Schutzkonzepts auf, die zwingend beantwortet, aber zuvor erst einmal transparent und selbstkritisch gestellt werden müssen. Ein Schutzkonzept beginnt aber immer schon im Vorfeld und das bezieht sich nicht nur auf die Örtlichkeit. Vorab gilt zwar die Binsenweisheit, dass es keinen absoluten Schutz vor Terroranschlägen und Amokfahrten geben kann, aber dies enthebt keine Sicherheitsbeauftragten in Behörden und anderen Institutionen von ihrer Verantwortung für die Gefahrenabwehr im Vorfeld von Massenveranstaltungen.

Der Straftäter und sein Hintergrund

Hinsichtlich der erdrückenden Beweislage kann nicht mehr von einem Tatverdächtigen gesprochen werden, wenn er auf frischer Tat festgenommen worden ist. Von großem Interesse ist dabei weniger seine Abstammung, sondern vielmehr sein geistig-seelischer Zustand und sein Charakter, dessen Hintergründe nunmehr im Rahmen des laufenden Strafverfahrens durch beauftragte medizinische Sachverständige analysiert werden müssen, allein schon, um die Schuldfähigkeit des Täters zu klären.
Bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie dachte sicherlich im Vorfeld niemand ernsthaft daran, dessen persönliche charakterliche und psychische Situation kritisch zu hinterfragen. Es sei denn, es hätte Auffälligkeiten gegeben, die amtsbekannt geworden sind. Diese Auffälligkeiten gab es und sie mündeten auch in Amtshandlungen der Polizei.
Nach Auskunft des Innenministeriums aus Sachsen-Anhalt gab es gegenüber dem Straftäter im Vorfeld zwei Gefährderansprachen, nämlich im September 2023 und im Oktober 2024, also die zweite lediglich zwei Monate vor seiner Tat. Offensichtlich haben beide Amtshandlungen nicht gefruchtet. Das wirft Fragen hinsichtlich konsequenten polizeilichen Handelns auf.
Die Durchführung von Gefährderansprachen stellt nach Maßgabe des Bundeskriminalamtes bundesweit eine sogenannte Standardmaßnahme hauptsächlich bei Gefährdern im Bereich der politisch motivierten Kriminalität dar.
In der Gefahrenabwehr gilt eine solche Gefährderansprache als Eingriffsmaßnahme gegen einen potenziellen polizeirechtlichen Verhaltensstörer (zum Beispiel gegen einen möglichen Täter häuslicher Gewalt oder gewaltorientierte Fußballfans im situativen Kontext von bevorstehenden Fußballveranstaltungen). Dabei zeichnet sich der polizeirechtliche Verhaltensstörer dadurch aus, dass er durch sein Verhalten eine im Einzelfall bestehende konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit verursacht. Die Polizei will ihm mittels einer Gefährderansprache klarmachen, dass sie ihn „auf dem Schirm“ hat und sein Handeln kritisch beobachtet, gegebenenfalls dann auch eingreift. Das hat sie in Sachsen-Anhalt jedoch ersichtlich nicht getan.

Mitteilungspflichten von Polizei und Strafjustiz

Polizeibeamte stellen bei ihrer täglichen Arbeit ständig Personen fest, deren psychischer Zustand oder charakterliche Eignung für das Führen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr kritisch zu hinterfragen ist und die durch ihr potenzielles oder gar schon bewiesenes Fahrverhalten oder ihr aggressives Verhalten außerhalb des Straßenverkehrs ein Risiko für die Verkehrssicherheit anderer Verkehrsteilnehmer darstellen. Dazu können auch Gefährder zählen.
Psychisch auffällige und durch ihre Handlungen polizeibekannt gewordene Personen müssen auf der Grundlage von Paragraf 2 Abs. 12 StVG durch die Polizei und andere Sicherheitsbehörden zwingend der Fahrerlaubnisbehörde (FEB) des Wohnortes des Betroffenen mitgeteilt werden. Eine gleichlautende Mitteilungspflicht gibt es übrigens auch für die Strafjustiz. Behördliche Zwangseinweisungen von besonders auffälligen Personen in psychiatrische Kliniken gehören für die Polizei zu diesen Standardfällen und Verfahrenseinstellungen wegen Schuldunfähigkeit aus krankhaften seelischen Störungen für die Strafjustiz.
Die FEB hat daraufhin zwingend die Möglichkeit zu prüfen, ob sie aufgrund der mitgeteilten Tatsachen Zweifel an der Fahreignung oder Fahrbefähigung der betreffenden Person hat. Hat sie Zweifel, muss sie wiederum bei der betreffenden Person die Vorlage eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens anfordern. Bei dieser Maßnahme handelt es sich um einen sogenannten Gefahrenerforschungseingriff auf dem Rechtsgebiet des Gefahrenabwehrrechts.
Das Gutachten eines amtlich anerkannten Gutachters (Fachärzte und gegebenenfalls zusätzlich Verkehrspsychologen) muss sodann fristgemäß vorgelegt werden. Fällt es negativ aus, wird die Fahrerlaubnis entzogen, wird es nicht vorgelegt, ist die Fahrerlaubnis ebenfalls zu entziehen. Die Regeln dieses Verfahrens finden sich in der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV), insbesondere in Paragraf 11 Abs. 3 FeV.
Ohne einen Führerschein kann aber kein Leihwagen als potenzielles Tatfahrzeug gemietet werden.
Das Thema der Mitteilungspflichten ist nach meiner langjährigen Erfahrung in Aus- und Fortbildung vielen Polizeibeamten nicht ausreichend bekannt, vielen Mitarbeitenden in den Fahrerlaubnisbehörden ebenfalls nicht. Auch viele Staatsanwälte und Strafrichter kennen ihre Mitteilungspflicht an die FEB nicht. Sie haben diese weder in ihrem Jurastudium, noch in ihrem Rechtsreferendariat erlernt. Die tiefen fachlichen Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und einer mangelhaften Fahreignung sind den genannten Berufsgruppen erfahrungsgemäß nicht einmal ansatzweise bewusst.

Sicherheitskonzepte und deren Umsetzung

Der Täter von Magdeburg konnte relativ problemlos mit seinem Tatfahrzeug in den Besucherbereich des Weihnachtsmarktes hineinfahren, er konnte diesen sogar über eine Strecke von mehreren Hundert Metern durchfahren, ohne gestoppt werden zu können.
Der gefahrenkritische Bereich war also die Einfahrt in den Weihnachtsmarkt und dort bestand ersichtlich und im wahrsten Sinne des Wortes eine „Sicherheitslücke“.
Gegenüber der plumpen Ausrede und dem Totschlagsargument „Im Nachhinein ist man immer schlauer!“ muss problemlos damit begegnet werden, dass die Schutzkonzepte von Weihnachtsmärkten spätestens seit der Amokfahrt vom 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz, also vor nunmehr acht Jahren, auf dem Prüfstand stehen. Also war man bereits vor der neuerlichen Amokfahrt von Magdeburg schlauer oder hätte es sein können. Offensichtlich ließ aber in diesen acht Jahren die Aufmerksamkeit nach und war einer relativen Sorglosigkeit gewichen.
Übrigens kann man unter Umständen sogar noch während einer Amokfahrt das Tatfahrzeug mittels eines polizeilichen Hilfsmittels stoppen, indem man eine moderne technische Abwandlung des Nagelgurtes einsetzt, über den zahlreiche Polizeidienststellen in den Bundesländern verfügen und deren Beamte am Gebrauch dieses Einsatzmittels geschult sind. Der Verfasser dieser Kolumne hatte im Frühjahr 2024 zu der Thematik „Anwendung des Bonowi „Stop Stick®“ gegen Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse über 3,5t“ eine Bachelorarbeit schreiben lassen, die aufgrund des bewiesenen Fleißes und des großen praktischen Fachwissens des ehemaligen Studenten und heutigen Polizeikommissars mit der Bestnote bewertet werden konnte. Die Bachelorarbeit verglich sämtliche auf dem Markt vorhandenen mechanischen Systeme, mittels derer flüchtende Fahrzeuge gestoppt werden können. Es wäre sicherlich lohnenswert, die praktischen Erkenntnisse dieser Arbeit auch für den Schutz von Veranstaltungen zu nutzen.

Verantwortung und Verantwortlichkeit

Die Unterscheidung zwischen persönlicher Verantwortung und juristischer Verantwortlichkeit ist wichtig. Eine persönliche Verantwortung im Vorfeld von Massenveranstaltungen wie Weihnachtsmärkten tragen diejenigen Personen, die Sicherheitskonzepte entwerfen und umsetzen. Sie müssen alle nur erdenklichen Szenarien im Kopf haben, um diesen wirksam mittels Schutzmaßnahmen begegnen zu können. Dabei beginnt die Verantwortung mit der praktischen Beauftragung und endet erst mit der selbstkritischen Aufarbeitung des abgeschlossenen Auftrags.
Juristisch verantwortlich sind alle mit dem betreffenden Ereignis dienstlich und privatrechtlich befassten Personen und Institutionen. In Magdeburg waren im Vorfeld die Straßenverkehrsbehörde für die verkehrsrechtlichen Anordnungen, die Polizei für die Gefahrenaufklärung im Vorfeld und für die Durchführung der polizeilichen Maßnahmen verantwortlich. Aber auch das kommunale Ordnungsamt zeichnet mit den Mitarbeitern des kommunalen Vollzugsdienstes verantwortlich für die gefahrlose Durchführung eines Weihnachtsmarktes. Daneben trägt auch der privatrechtliche Betreiber eines Weihnachtsmarktes sowohl persönliche Verantwortung, als auch eine juristische Verantwortlichkeit.
Alle bezeichneten Personen, Behörden und Institutionen trifft die sogenannte „Verkehrssicherungspflicht“, wonach allen nur erdenklichen Gefahren praktisch vorgebeugt werden muss. Der Grundsatz lautet: „Wer eine Gefahr schafft, muss alle Schritte unternehmen, diese auch zu beherrschen.“
Wer Fehler begeht und diese schuldhaft, das heißt fahrlässig oder gar vorsätzlich zu verantworten hat, kann dafür strafrechtlich und zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Im Strafrecht greift die Verantwortlichkeit für die Begehung von Straftaten durch Unterlassen gebotener Pflichten und zivilrechtlich greift für Amtsträger die Haftung aus einer Amtspflichtverletzung (Paragraf 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) und für Zivilpersonen die Haftung aus Unerlaubter Handlung (Paragraf 823 BGB).
Daneben existiert auch eine politische Verantwortung zum Beispiel der Oberbürgermeisterin von Magdeburg für die rückhaltlose Aufarbeitung des misslungenen Schutzkonzeptes ihrer Behörden und Amtsträger sowie die Innenministerin von Sachsen-Anhalt für das Handeln ihrer Polizeibediensteten.

Fazit

Der Täter von Magdeburg war ein polizeibekannter potenzieller Verhaltensstörer. Auf zwei Gefährderansprachen folgte keine Untersuchung seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen, wahrscheinlich nicht einmal eine Mitteilung an eine Fahrerlaubnisbehörde. Es stellt sich die Frage, warum eine Gefährderansprache nur an den potenziellen Gefährder adressiert wird und nicht gleichzeitig auch die vorhandenen vollzugspolizeilichen Erkenntnisse den anderen Polizeibehörden wie zum Beispiel der FEB mitgeteilt werden.
Das fachlich gut gedachte System aus Mitteilungspflichten und Untersuchungspflichten ist lückenhaft und bedarf dringend einer kritischen Überprüfung sowie Verbesserung.
Das missglückte Schutzkonzept für den Weihnachtsmarkt und seine Besucher muss bis in alle Einzelheiten selbstkritisch hinterfragt und auf dessen Schwachstellen hin analysiert werden, damit nach Berlin und Magdeburg nicht noch weitere Taten ähnlich tragischen Ausmaßes folgen. Daran wird wohl auch die Strafjustiz in Sachsen-Anhalt mitwirken müssen.

Weiterführende Links
Schulungskonzept für Polizeibeamte zum Erkennen von krankheitsbedingten Fahreignungsmängeln
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Aufsatz zur Gefährderansprache aus „Die POLIZEI“
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§ 2 Abs. 12 StVG
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§ 11 Abs. 3 FeV
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Verwaltungsvorschrift über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra)
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik

Foto: lichtspektrum_org/Pixabay