//Müllers Kolumne: Gericht vernachlässigt Verkehrssicherheit

Müllers Kolumne: Gericht vernachlässigt Verkehrssicherheit

Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Dezember des vergangenen Jahres über ein wichtiges Problem aus dem Gebiet der Anordnung von Gutachten durch die Fahrerlaubnisbehörde (FEB) zu entscheiden, bei dem es um die Frage ging, ob einer bei ihrer Anlasstat alkoholisierten Täterin im Ergebnis eine medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) erspart bleibt oder nicht. Der Senat entschied sich gegen die MPU, die die Täterin dazu gezwungen hätte, sich mit ihrem Tatverhalten und dessen Vorgeschichte dezidiert auseinanderzusetzen. Dies ersparten die Richter des BVerwG ihr nun.
Um den Fall besser zu verstehen, hier die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts, veröffentlichte am 14.12.2023:

„Medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) bei Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss“
BVerwG 3 C 10.22 – Urteil vom 14. Dezember 2023

„Wiederholte Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV), die die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigen, liegen nur dann vor, wenn der Betroffene in mindestens zwei vom äußeren Geschehensablauf her eigenständigen Lebenssachverhalten je eine oder mehrere solche Zuwiderhandlungen begangen hat. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden.
Die Klägerin begehrt die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis. Wegen in Tatmehrheit im Sinne des Strafgesetzbuchs begangener fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr sowie vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort hatte sie das Amtsgericht K. rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt und ihr die Fahrerlaubnis entzogen. Nach den Feststellungen im Strafurteil fuhr die Klägerin am 2. April 2015 mit ihrem PKW in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand (Blutalkoholkonzentration von 0,68 Promille) auf den Parkplatz eines Supermarkts. Nach dem Einkauf parkte sie rückwärts aus und fuhr dabei auf einen hinter ihrem Fahrzeug stehenden PKW auf. Sie stieg aus und begutachtete den entstandenen Schaden. Anschließend fuhr sie in ihre Wohnung zurück, ohne die erforderlichen Unfallfeststellungen treffen zu lassen.
Als die Klägerin im März 2018 beim Beklagten die Neuerteilung der Fahrerlaubnis beantragte, forderte er von ihr die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. Sie habe am 2. April 2015 wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen, die Zweifel an ihrer Fahreignung begründeten. Zwischen den beiden Fahrten liege mit dem Aussteigen aus dem Fahrzeug und der Begutachtung des Schadens eine Zäsur. Da die Klägerin das Gutachten nicht beibrachte, lehnte der Beklagte die Fahrerlaubniserteilung ab.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat ihre Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat diese Entscheidung geändert und den Beklagten zur Erteilung der Fahrerlaubnis verpflichtet. Bei dem Geschehen am 2. April 2015 habe es sich nicht um wiederholte Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV gehandelt. Das setze voraus, dass es bei natürlicher Betrachtungsweise zu mindestens zwei deutlich voneinander abgrenzbaren Trunkenheitsfahrten gekommen sei. Bei dem Ausparkunfall nebst Aussteigen und Betrachten der Fahrzeuge habe es sich nur um eine kurzzeitige Unterbrechung gehandelt, die – auch in der Gesamtbetrachtung mit der vorherigen Fahrtunterbrechung für den Einkauf – keinen neuen und eigenständigen Lebenssachverhalt begründet habe.
Die vom Beklagten gegen das Berufungsurteil eingelegte Revision hatte keinen Erfolg. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Neuerteilung der Fahrerlaubnis. Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Bundesrechtsverstoß angenommen, dass die Klägerin am 2. April 2015 nicht – wie in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV vorausgesetzt – wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen hat. Das ist nur dann der Fall, wenn der Betroffene in mindestens zwei vom äußeren Geschehensablauf her eigenständigen Lebenssachverhalten je eine oder mehrere solche Zuwiderhandlungen begangen hat. Auch wenn eine Trunkenheitsfahrt nach einem alkoholbedingten Unfall in Kenntnis der eigenen Fahruntüchtigkeit fortgesetzt wird, kann ein einheitlicher Geschehensablauf vorliegen. Im Fall der Klägerin ist die Annahme des Oberverwaltungsgerichts nicht zu beanstanden, dass die Trunkenheitsfahrt, die unfallbedingt nur für wenige Minuten unterbrochen war, einen einheitlichen Lebenssachverhalt darstellt.
Fußnote:
§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV:
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen.
§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV:
Zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis … ordnet die Fahrerlaubnisbehörde an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden.“

Bärendienst an der Verkehrssicherheit

Der Senat setzt sich mit seiner Entscheidung in Widerspruch zur Rechtsauslegung des Bundesgerichtshofes in der diffizilen Problematik der Konkurrenzen zwischen mehreren begangenen Straftaten.
Die nach einer Verursachung eines Verkehrsunfalls von der Täterin bewusst getroffene Entscheidung zur Weiterfahrt ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH – im Gegensatz zur aktuell geäußerten Meinung des BVerwG – eine rechtlich selbständige Handlung (siehe dazu nur die Entscheidung des BGH, Urteil vom 17. Februar 1967 – 4 StR 461/66, BGHSt 21, 203-206). Das ist auch logisch, weil von einem Täter nach dem bewussten Wahrnehmen einer Schadensverursachung ein ganz neuer Tatentschluss vor dem Hintergrund der Umstände des gesamten Tatgeschehens getroffen wird. Und dieser Entschluss lag nun einmal darin, dass die Unfallverursacherin offensichtlich um ihren Zustand der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit wusste und sich vor der womöglich gegen sie ermittelnden Polizei nicht als Unfallverursacherin verantworten und damit zu ihrem Verhaltensfehler stehen wollte. Dieses an sich schon sozialschädliche, weil der Versichertengemeinschaft und dem Staat die Regulierung der Schäden überlassenden Verhalten, wird noch überboten von dem neuen potenziellen Unfallrisiko, das durch eine weitere Fahrt in alkoholisiertem Zustand geschaffen wurde. Es handelt sich eben gerade nicht um eine Fortsetzung der durch das Unfallgeschehen unterbrochenen Fahrt, sondern um ein neues Tatgeschehen, das nun auch noch vor dem Hintergrund einer Fluchtfahrt vor einer strafrechtlichen Entdeckung geprägt und damit potenziell noch gefährlicher gewesen ist. Für die vorgenannte Auslegung gibt es nur eine Ausnahme; denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bilden aber alle Gesetzesverletzungen, die der Täter im Verlauf einer einzigen, ununterbrochenen Fluchtfahrt begeht, eine Tat im Sinne des § 52 StGB (BGH, Beschluss vom 13. September 2023 – 4 StR 48/23, Rn. 3, juris). Ein solcher Ausnahmefall lag bei der nun vom BVerwG entschiedenen Fallkonstellation aber gerade nicht vor.

Die Verwaltungsrichter am BVerwG beweisen durch ihre formaljuristische Entscheidung des Verzichts auf eine MPU, dass sie es scheinbar mit der Verkehrssicherheit nicht so ernst nehmen, wie man es von Richtern an einem Bundesgericht erwarten dürfte, die ein deutlich höheres Maß an juristischer Verantwortung tragen als dies bei den Richterinnen und Richtern der Instanzgerichte der Fall ist. Ihre Entscheidungen haben immerhin richtungsweisende Wirkung für alle nachfolgenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte in ganz Deutschland. Und: Die Instanzgerichte müssen auch möglichen juristischen Fehlentscheidungen ihres obersten Verwaltungsgerichts erst einmal folgen, bis eine Fehlentscheidung höchstrichterlich korrigiert wird. Auf das Bundesverfassungsgericht darf man in einem solchen Fall nicht hoffen, weil die Täterin obsiegt hat und ihr ein sonst mittels Verfassungsbeschwerde möglicher Gang nach Karlsruhe erspart bleibt.

Der Verkehrssicherheit wurde mit dieser Entscheidung ein Bärendienst erwiesen und man kann nur darauf hoffen, dass die Straftäterin zukünftig auch ohne den Lerneffekt der professionellen Vorbereitung auf eine MPU zwischen dem Konsum von Alkohol und dem Führen eines Kraftfahrzeugs zu trennen vermag. Sollte dies nicht der Fall sein, läge die Verantwortung dafür zu einem guten Teil bei den beteiligten Richtern des Senates des BVerwG, die den Sinn und Zweck des Fahreignungsrechts und eines solchen Gefahrenerforschungseingriffs einer MPU anders zu beurteilen scheinen als ich. Verwaltungsrichter sollten die Entscheidung über Tateinheit oder Tatmehrheit gem. §§ 19, 20 OWiG oder §§ 52, 53 StGB inhaltlich lieber ihren Kollegen von der ordentlichen Gerichtsbarkeit überlassen und nicht ohne Not in deren Bereichen über Rechtsfragen entscheiden, deren Tragweite sie – wie es scheint – nicht vollends überblicken.

Weiterführende Links:

Entscheidung des BGH
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Entscheidung des BVerwG
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.

Foto: Sang Hyun Cho/Pixabay