Die Europäische Union und die Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten stehen vor der Herausforderung, Straßenverkehrssicherheit vor dem Hintergrund alternder Bevölkerungen neu zu denken. Ein Bericht des Europäischen Verkehrssicherheitsrats (ETSC) hatte gezeigt, wie die Verkehrssicherheit für Seniorinnen und Senioren verbessert werden kann, damit sie möglichst lange selbstständig, vor allem aber sicher am Straßenverkehr teilnehmen können. Darin kam der ETSC zu dem Schluss, dass verpflichtende Fahreignungstests für ältere Pkw-Fahrerende derzeit nicht das erste Mittel der Wahl sind.
Der DVR teilt diese Meinung. Manfred Wirsch, Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR), sagt dazu: Statt verpflichtender Fahreignungstests sei vielmehr „die freiwillige Teilnahme an Maßnahmen zum Fahrkompetenzerhalt aus Akzeptanzgründen zu bevorzugen und intensiv zu bewerben. Die Fahrkompetenz kann dabei durch eine Fahrverhaltensbeobachtung im Realverkehr ermittelt werden. Erst wenn klar ist, dass die Zielgruppe der über 75-Jährigen dadurch nicht zufriedenstellend erreicht werden kann, ist über weiterführende Zugänge nachzudenken.“
Der DVR-Verkehrsausschuss Erwachsene hat Empfehlungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit für Seniorinnen und Senioren erarbeitet.
DVR-Empfehlung: „Fahrkompetenz von Seniorinnen und Senioren erhalten und verbessern“
Die Pkw-Mobilität spielt im Alter eine zentrale Rolle für die gesellschaftliche Teilhabe, ein positives Selbstbild und die Lebenszufriedenheit. Dies zeigt sich besonders für ältere Personen im ländlichen Raum, wo oft wenig Mobilitätsalternativen zum eigenen Pkw bestehen.
Mit zunehmendem Alter kommt es bei allen Menschen zu einer Abnahme der sensorischen, kognitiven und motorischen Leistungsfähigkeiten. Hierbei bestehen große Variationen zwischen den älteren Personen. Diese Abnahme hat auch Konsequenzen für die Fahrkompetenz und das Unfallgeschehen im Straßenverkehr. Sind Seniorinnen und Senioren ab 75 Jahren als Pkw-Fahrende an Unfällen beteiligt, gelten sie in drei von vier Fällen als Hauptverursacherin bzw. Hauptverursacher des Unfalls. Gemessen an ihrer Fahrleistung verursachen Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer ab 75 Jahren 1,8-mal so viele Unfälle mit Personenschaden als es ihr Anteil an der Fahrleistung erwarten lassen würde. Dies entspricht in etwa dem Unfallrisiko von 21- bis 24-jährigen Fahrerinnen und Fahrern.
Die Fahrkompetenz umfasst alle Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Wissen, welche zur erfolgreichen Bewältigung der Anforderungen und Situationen im motorisierten Straßenverkehr benötigt werden. Davon abzugrenzen ist die Fahreignung. Diese umfasst die notwendigen psychischen (geistigen) und physischen (körperlichen) Mindestanforderungen, um ein Kfz sicher zu führen.
Ältere Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer können die Mindestanforderungen erfüllen (=fahrgeeignet sein), gleichzeitig jedoch charakteristische Einschränkungen in der Fahrkompetenz und Auffälligkeiten im Unfallgeschehen aufweisen. Daher ist eine besondere Unterstützung der älteren Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer beim Erhalt und der Verbesserung ihrer Fahrkompetenz notwendig.
Aufbauend auf dem Beschluss des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) e.V. „Verkehrssicherheitsarbeit für Ältere in Zeiten des demographischen Wandels“ vom 22.05.2019 stehen in diesem Beschluss die besonderen Herausforderungen für ältere Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer im Mittelpunkt. Ziel ist es, die Verkehrssicherheit der älteren Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer selbst und aller anderen Verkehrsteilnehmenden zu gewährleisten. Auf den Aspekt der Fahreignung wird in diesem Beschluss nur insoweit eingegangen, als es zur Unterscheidung und Abgrenzung zur Fahrkompetenz notwendig ist.
Empfehlungen
- Der DVR tritt dafür ein, dass zur Gewährleistung einer sicheren Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr Maßnahmen zum Erhalt der Fahrkompetenz eingeführt werden.
- Der Aspekt der Fahrkompetenz ist vom Aspekt der Fahreignung klar zu unterscheiden.
- Verpflichtende Fahreignungstests für alle älteren Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer, also auch ohne begründete Zweifel an deren Fahreignung, werden als nicht zielführend zur Ermittlung der Fahrkompetenz erachtet und abgelehnt.
- Maßnahmen zum Erhalt der Fahrkompetenz sollten spätestens ab dem 75. Lebensjahr ansetzen, da ab diesem Alter die Leistungsfähigkeit messbar sinkt und gleichzeitig der Anteil der Seniorinnen und Senioren als Hauptverursachende bei Unfällen mit Personenschaden steigt.
- Die freiwillige Teilnahme an Maßnahmen zum Kompetenzerhalt ist aus Akzeptanzgründen zu bevorzugen und intensiv zu bewerben. Sofern die Zielgruppe dadurch nicht zufriedenstellend erreicht wird, wird das BMDV gebeten, über weiterführende Zugänge nachzudenken.
- Selbsteinschätzungen und Selbsttests eignen sich für die Ansprache und Kommunikation mit Seniorinnen und Senioren. Sie eignen sich aber nicht als Instrumente zur Diagnose oder zum Erhalt der Fahrkompetenz.
- Maßnahmen zum Erhalt der Fahrkompetenz sollten auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Veränderung der Leistungsfähigkeit im Alter und dem Unfallgeschehen von älteren Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrern beruhen.
- Die Fahrkompetenz kann durch eine Fahrverhaltensbeobachtung im Realverkehr ermittelt werden. Diese ist gegenüber anderen diagnostischen Maßnahmen (z.B. Sehtest, kognitive Tests) vorzuziehen, da nur sie eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Fahrkompetenz ermöglicht.
- Die Rückmeldefahrt umfasst eine standardisierte Fahrverhaltensbeobachtung mit anschließender qualifizierter Rückmeldung. Die Fahrkompetenz kann durch eine standardisierte Rückmeldefahrt nachweislich verbessert werden.
- Der DVR wird Standards für Rückmeldefahrten für Seniorinnen und Senioren in seine Angebote aufnehmen.
- Weitere Maßnahmen zum Erhalt und zur Verbesserung der Fahrkompetenz sind evidenzbasiert zu entwickeln und in Bezug auf ihre Wirksamkeit zu evaluieren.
DVR/so
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