Es ruht viel Hoffnung auf den modernen Assistenzsystemen mit automatisierten Fahrfunktionen, mit deren Hilfe die Verkehrssicherheit entscheidend verbessert werden soll. Doch übermäßig viel Vertrauen in die Technik ist nicht angebracht, damit der kritische Blick nicht verloren geht. Und der ist erforderlich. So fiel der Prüforganisation Dekra auf, dass sich immer noch viele Lkw-Unfälle am Stauende auf Autobahnen ereignen, obwohl sie durch die zunehmende Verbreitung von Notbremsassistenten stärker rückläufig sein müssten.
Auffahrunfälle schnell fahrender Schwer-Lkw auf eine nur langsam sich bewegende oder ganz stehende Pkw-Kolonne gehen regelmäßig furchtbar aus. Diese Kollisionen ereignen sich oft an schlecht einsehbaren Kuppen, in Kurven oder wenn der Fahrer des auffahrenden Lastwagens nicht aufmerksam oder gar in einen Sekundenschlaf gefallen war. Abhilfe sollten die automatisch funktionierenden Notbremsassistenten schaffen, eigentlich. Also nahmen Dekras Sicherheitsexperten gängige Bremsassistenten genauer unter die Lupe.
Sie ließen Lastwagen verschiedener Hersteller mit einem menschlichen Fahrer am Steuer und mit 50 km/h Geschwindigkeit auf einen stehenden Pkw fahren, um die Wirkungen des Bremsassistenten zu testen. Im Ergebnis stellten die Fachleute erstaunt fest, dass die Bremsassistenten unterschiedlich gut funktionierten. Es gab zwar Systeme, die den Truck einwandfrei zum Stehen brachten. Andere Assistenten verzögerten jedoch sehr spät oder sorgten nur für eine mäßige Bremsung, so dass es zu leichtem Blechschaden kam. Ein Truck reagierte überhaupt nicht, weil der Fahrer durch einen unbeabsichtigten Lenk- oder Bremseingriff das System übersteuert und damit quasi ausgeschaltet hatte. Dadurch krachte der Test-Lkw mit immerhin 27 km/h in den stehenden Pkw hinein.
Es kam bei den Crashtests mit den verschiedenen Notbremsassistenten also zu Kollisionen, die nicht hätten passieren dürfen. Jann Fehlauer, Geschäftsführer von Dekras Automobilsparte, warf bei der Vorstellung der Testergebnisse vor Journalisten in Berlin Ende Juni die Frage auf, ob die Technik richtig ausgeschöpft sei.
Seine Forderung an die Lkw-Hersteller: Die Assistenzsysteme müssen für die Fahrer einfach zu bedienen sein und die unterschiedlichsten Szenarien aus dem realen Verkehrsgeschehen abdecken, damit die Systeme ihre Wirkung in welcher konkreten Konstellation auch immer korrekt entfalten. Am besten wäre es, und diese Anregung richtete Fehlauer an die Politik, wenn die Notbremsassistenten herstellerunabhängig vereinheitlicht würden.
Jenseits der technischen Auslegung führt der Einsatz moderner Assistenzsysteme zu einer neuen Gefahr für Lkw- wie für Pkw-Fahrer, und die heißt: Unterforderung und Gewöhnung. Wenn die Assistenten zu viele Aufgaben übernehmen, fängt der Mensch am Lenkrad an, sich zu langweilen und nach Ablenkung zu suchen. Oder man fühlt sich auf die Dauer zu sicher und wird aus diesem Grund unaufmerksam. Die zunehmende Automatisierung könnte sogar dazu führen, dass Autofahrer über immer weniger Fahrerfahrung verfügen. „Sie ist aber gerade in den kritischen Fahrsituationen unabdingbar, in denen ein automatisiertes System wieder an den Fahrer übergibt“, merkt Fehlauer warnend an. Für diese Herausforderung, so stellt er nüchtern fest, gebe es aktuell keine befriedigende Lösung.
Teuflischerweise existiert auch das gegenteilige Problem. Aus Umfragen wissen Fehlauer und sein Team, dass häufige Warnmeldungen von Assistenzsystemen oder oft ausgegebener Fehlalarm das Vertrauen der Fahrer in die Technik sinken lässt. Verstärkt wird dieser Effekt dann noch, wenn sich der Fahrer mit dem System ohnehin nicht richtig auskennt. Das kann zur Folge haben, dass der Fahrer das schützende Potential eines Assistenzsystems nicht aktiv ausschöpft, es also verpuffen lässt.
Schlussfolgerungen
Aus allen diesen Erkenntnissen rund um die Nutzung von Assistenzsystemen zieht Dekra Schlussfolgerungen. Die Stuttgarter Prüforganisation empfiehlt, dass Assistenzsysteme generell kooperativ und nur zur Unterstützung des Fahrers ausgelegt sein sollten. Von „technologielastigen Lösungen“, die den Menschen „nur als ‚Problemlöser’ benötigen“, rät Dekra ab.
Ferner sollten die Fahrer über Funktionsweise, Anwendungsbereich und auch über die Systemgrenzen von Assistenzsystemen Bescheid wissen. Auch hier erhebt Dekra die Forderung nach herstellerunabhängiger Standardisierung sicherheitsrelevanter Bedienfunktionen, was sowohl die Anordnung im Cockpit als auch die Anwendung meint.
Auch wenn alle von Dekra postulierten Voraussetzungen erfüllt sind und die Technik einwandfrei funktioniert, kann es immer noch geschehen, dass ein Assistenzsystem falsch funktioniert. Dann nämlich, wenn die Kameras und die anderen Sensoren, welche die benötigten Daten zum Umfeld des Fahrzeugs liefern, fehlerhaft ausgerichtet sind. Beispielsweise übermittelt ein Heckradar, der nur um zwei Grad verschoben wurde, bereits falsche Informationen, die das Assistenzsystem in die Irre führen. Das Tückische daran: Eine solch geringe Verschiebung bewegt sich unterhalb der „Eigendiagnoseschwelle“, sprich die eingebaute Selbstkontrolle entdeckt die falsche Einbaulauge, „Dejustage“ genannt, nicht. „Selbst eine dicke Lackschicht nach einer Reparatur kann sich negativ auf die Funktion eines Sensors auswirken“, stellt Fehlauer auf der Grundlage von Praxistests fest.
Dekras nicht ganz uneigennütziger Lösungsvorschlag lautet, die Sensoren in das Prüfprogramm bei der regelmäßigen Hauptuntersuchung der Fahrzeuge aufzunehmen.
Kristian Glaser (kb)
Foto: Daimler Truck