Die EU-Kommission präsentierte der interessierten Öffentlichkeit pünktlich am 1. März, siebzehn Jahre nach der letzten Reform, die Entwurfsfassung ihrer 4. Führerscheinrichtlinie. Seither ist eine europaweite Diskussion über deren Inhalte entbrannt, ab der wir Sie gerne beteiligen möchten.
Die Richtlinie ist Bestandteil eines datenschutzkonformen „Safety-Package“, das daneben auch die grenzüberschreitende Verkehrsüberwachung erleichtern soll. Zusätzlich haben sich die EU-Staaten auch auf eine europaweite Geltung von Fahrerlaubnisentzügen geeinigt. Sämtliche Neuerungen sind Ergebnisse des von allen EU-Verkehrsministern beschlossenen verkehrspolitischen Programms 2021 – 2030.
Nun muss das Gesamtpaket „nur noch“ in nationales Recht überführt werden, damit es auch in der Arbeitspraxis der Behörden umgesetzt werden kann.
Die neuen Führerscheinregeln
a) Vorschläge
Der „Führerschein mit 17“, ein in Deutschland und Österreich erfolgreiches Präventionsmodell des begleiteten Fahrens im ersten Jahr nach bestandener theoretischer Prüfung, soll zusammen mit dem ebenfalls bewährten vollständigen Alkoholverbot für Fahranfänger für mindestens zwei Jahre auf die gesamte EU ausgerollt und auf die Fahrerlaubnisklasse C ausgedehnt werden.
Die Fahrausbildung und -prüfung soll vereinheitlicht werden, um Fahrerinnen und Fahrer besser auf die Anwesenheit von gefährdeten Gruppen von Verkehrsteilnehmern wie Fußgänger und Radfahrer im Verkehrsraum vorzubereiten.
b) Diskussion
In seltenen Fällen können andere europäische Staaten auch einmal von Deutschland lernen. Dies ist bei den beiden erfolgreichen Präventionsmodellen „Führerschein mit 17“ und „Alkoholverbot für Fahranfänger“ erwiesenermaßen der Fall. Eine sehr erfreuliche Regelung.
Auch eine europaweit verbesserte Sensibilisierung der Auszubildenden in der Kraftfahrausbildung für die besonders hohen Risiken der schwächeren Verkehrsteilnehmer und der Risikogruppen im Straßenverkehr. Hier befindet man sich in Deutschland im europäischen Mittelfeld und könnte deutlich besser werden, was allerdings einen qualitativen Sprung auch in der Fahrlehreraus- und -fortbildung erfordert, wo in Deutschland noch ein erheblicher fachlicher Aufholbedarf besteht. Eine qualifizierte fachpädagogische Fahrschulüberwachung und die fachliche Ertüchtigung motivierter Fahrlehrer ist in jedem Fall wünschenswert.
Digitalisierung total
a) Vorschläge
Eine vollständig digitalisierte Version des Führerscheins soll mittels einer Anwendung auf jedem dafür geeigneten Smartphone als Legitimationsnachweis genügen. Sämtliche Verfahrensschritte zum Fahrerlaubniserwerb sollen digitalisiert werden und auch die Erweiterung, Erneuerung und der Austausch von Führerscheinen soll auf diese Weise vereinfacht werden.
b) Diskussion
Sicherlich ein wichtiger, aber auch ein sehr plakativer Gesichtspunkt einer möglichen Reform. Natürlich ist das Schlagwort „Digitalisierung“ in aller Munde, aber es muss mit Leben gefüllt werden, und zwar auf allen Ebenen. Dazu gehört nicht nur eine technische Ertüchtigung der Netze auf einen 5-G-Standard ohne Funklöcher, sondern auch die Ausstattung der Kontrollbehörden mittels funktionsfähiger und einfach zu bedienender Technik in jedem Streifenwagen und bei jedem Beamten – bislang nicht mehr als ein schöner Traum.
Überwachung und Ahndung von Verkehrsverstößen
a) Vorschläge
Den Verfolgungs- und Vollstreckungsbehörden soll ein europaweiter Zugang zu nationalen Führerscheinregistern ermöglicht werden. Die Kommission möchte die Rolle der etablierten nationalen Kontaktstellen, also in Deutschland die des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA), stärken, damit sie besser mit den Vollstreckungsbehörden der anderen Staaten zusammenarbeiten können, die an der Untersuchung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten beteiligt sind.
Die bereits seit 2015 bestehende Cross-Border-Richtlinie soll um die folgenden Delikte erweitert werden:
- Unzureichender Sicherheitsabstand;
- gefährliches Überholen;
- gefährliches Parken;
- Überqueren einer oder mehrerer durchgehender weißer Linien;
- falsches Fahren in einer Einbahnstraße;
- Nichtbeachtung der Regeln für die Nutzung von Rettungsgassen;
- Überladung eines Fahrzeugs.
EU-Bürgern aus anderen Staaten sollen ein Recht auf wirksamen Widerspruch/Einspruch und ein faires Verfahren mit Verteidigung gewährt werden, wobei die Unschuldsvermutung gewahrt bleiben soll. Diese Rechte sollen besser garantiert werden, indem eine einheitliche Gestaltung und Zustellung von Bußgeldbescheiden sichergestellt werden sollen. Die Empfänger solcher Bescheide sollen durch einheitliche Regeln in die Lage versetzt werden, die Echtheit der Bescheide zu überprüfen und die Weitergabe von Informationen an vermeintliche Täter zu veranlassen.
Über ein EU-einheitliches IT-Portal soll den Bürgern ein einfacher Zugang zu Informationen über die in jedem Mitgliedstaat geltenden Verkehrsregeln gegeben werden und langfristig soll ihnen darüber auch die direkte Zahlung von Bußgeldern ermöglicht werden.
b) Diskussion
Uneingeschränkt zu befürworten ist die Ausweitung des Katalogs der Delikte, bei denen eine grenzüberschreitende Ahndung ermöglicht wird. Allerdings gilt in Deutschland auch für Ordnungswidrigkeiten, bei deren Begehung bekanntlich kein Schuldprinzip gilt, leider immer noch das Verbot einer Halterhaftung. Somit müssen nach wie vor die Fahrerdaten ermittelt werden. Von den anderen EU-Staaten erhalten Polizei und Kommunen aber nur die Daten der Fahrzeughalter, sodass der zweite Ermittlungsschritt auch in Zukunft nicht erspart bleiben wird. Somit wird es zumindest in Deutschland, wenn man sich nicht endlich zu Rechtsänderungen entschließen kann, kaum Fortschritte in der Ahndung ausländischer Straftäter und Täter von Ordnungswidrigkeiten geben, weil diese sich hinter den Haltern der Kraftfahrzeuge auch weiterhin „verstecken“ können.
Die Online-Abfragemöglichkeit beim KBA ist nach wie vor ein Nadelöhr der Verkehrsüberwachung. Sie muss von mobilen und stationären Terminals durch jeden polizeilichen und kommunalen Mitarbeiter möglich sein, der in der Verkehrsüberwachung tätig ist und die notwendige dienstliche Erlaubnis zur Abfrage erhalten hat.
Entziehung von Fahrerlaubnissen
a) Vorschläge
Wenn ein EU-Staat nach Verurteilung wegen einer schwerwiegenden Straftat im Straßenverkehr die Fahrerlaubnis eines EU-Bürgers entzieht, soll diese Entziehung europaweit gelten. Dies ist auch für schwerwiegende Ordnungswidrigkeiten angedacht. Auch die Entziehung durch Verwaltungsbehörden ist inbegriffen. Gleichzeitig sollen die Ermittlungsmöglichkeiten in Straf- und Verwaltungsverfahren deutlich verbessert werden.
b) Diskussion
Die europaweite Geltung der strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Entziehung der Fahrerlaubnisse ist längst überfällig und wird einen enormen Fortschritt in der Verkehrssicherheit erbringen, wenn die Entzüge in einem zweiten Schritt auch konsequent überwacht und deren Missachtung europaweit scharf bestraft wird. Für das südliche Europa werden für diese Fälle des alkoholisierten Fahrens traditionell Freiheitsstrafen ausgesprochen und Tatfahrzeuge konsequent beschlagnahmt und durch den Staat verwertet. In Deutschland gilt bislang weiterhin ein weitestgehend liberales Strafrecht, auch gegenüber Alkoholtätern, sodass für Juristen in der Strafjustiz der Blick über den deutschen Tellerrand erst einmal gelingen muss, ehe die Erfolge europaweit praktiziert werden können.
Fahreignung
a) Vorschläge
Die medizinische Eignung ist nicht altersgebunden und daher sollen die Regeln zur körperlichen und geistigen Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen aktualisiert werden, um sie an die neuesten technologischen und medizinischen Entwicklungen anzupassen.
Da die neuesten Forschungsergebnisse für mit dem Alter verbundene Fahrerrisiken zeigen, dass Menschen zunehmend in der Lage sind, über die aktuellen Altersgrenzen hinaus Auto zu fahren, soll das Alter, ab dem die Mitgliedstaaten die Häufigkeit medizinischer Untersuchungen erhöhen können, von derzeit 50 auf 70 Jahre erhöht werden dürfen. Darüber hinaus sollen die medizinischen Screening-Prozesse in der gesamten EU durch ein neues Online-Schulungsprogramm für Allgemeinmediziner und eine Plattform zum Austausch bewährter Verfahren bei medizinischen Untersuchungen fachlich besser miteinander abgestimmt werden. Dadurch soll die Anzahl der Fahrerinnen und Fahrer reduziert werden, die nicht zum Fahren geeignet sind.
b) Diskussion
Auch diese Reformgedanken sind uneingeschränkt zu befürworten. Insbesondere wendet sich die EU-Kommission dezidiert gegen eine Diskriminierung von Patientinnen und Patienten, die an körperlichen und geistigen Krankheiten leiden. Ihnen soll ausdrücklich Hilfe angeboten werden, ihre fahrerische Mobilität so lange wie möglich zu erhalten. Gleichzeitig soll eine obligatorische Untersuchung der körperlichen Fahreignung erst ab einer Altersgrenze von 70 Jahren eingeführt werden. Zudem ist die Aus- und Fortbildung von Allgemeinmedizinern und Hausärzten hinsichtlich fahreignungsrelevanter Krankheiten unbedingt zu begrüßen. Da hapert es auch in Deutschland gewaltig an der ärztlichen Aus- und Fortbildung, sodass zahlreiche Ärztinnen und Ärzten nicht einmal die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung und die ärztlichen Begutachtungsanlässe der Fahrerlaubnis-Verordnung fachlich geläufig sind.
Fazit
Die Gedanken und praktischen Vorschläge der EU-Kommission bieten große Chancen dafür, Leben und Gesundheit im Straßenverkehr zu retten und zahlreiche Verkehrsunfallopfer zu vermeiden. Sie müssen nach einer dringend notwendigen Fachdiskussion in jedem einzelnen EU-Staat „nur“ möglichst schnell und konsequent in nationales Recht überführt werden. Nun sind die Verkehrsfachleute im BMDV und in den Verkehrs- und Innenministerien der Länder am Zug.
Weiterführende Links
EU road safety policy framework 2021-2030
https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/d7ee4b58-4bc5-11ea-8aa5-01aa75ed71a1
EU Safety-Package
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_23_1145
Referentenentwurf der 4. Führerscheinrichtlinie
https://transport.ec.europa.eu/system/files/2023-03/COM_2023_127.pdf
FaQ
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/qanda_23_1146
Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.
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