//Müllers Kolumne: Allheilmittel „autonomes Fahren“?

Müllers Kolumne: Allheilmittel „autonomes Fahren“?

Im Rahmen seiner Sitzung vom 28. Mai 2021 stimmte der Bundesrat einer denkwürdigen Gesetzesnovelle der Bundesregierung zu, die das Zeug dazu hat, den Straßenverkehr in Deutschland zu revolutionieren. Das ist nicht übertrieben, weil mit den Änderungen des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und des Pflichtversicherungsgesetzes (PflVG) dem autonomen, das heißt fahrerlosem Fahren, der gesetzliche Boden bereitet wird. Damit betritt Deutschland auch international Neuland, weil weltweit bislang kein anderer Staat einen solchen Rechtsrahmen geschaffen hat. Es fehlen nur noch die Unterzeichnung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten und die Verkündung im Bundesgesetzblatt. Mit beiden Formalitäten ist in der kommenden Woche zu rechnen, sodass die neuen Vorschriften am Tag nach der Verkündung in Kraft treten können.

Die Level der Automatisierung

Der Grad der Automatisierung wird international in die Level 0 – 5 eingeteilt. Durch den unumkehrbar internationalen Prozess wird die deutsche Übersetzung der „Stufe“ nicht genutzt.
Der gültige Standard ist die SAE J3016 der SAE-International, einer Standardisierungsorganisation, die auf wichtige Vorarbeiten der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) aufbauen konnte.
Beim Level 2 assistieren die Funktionen lediglich den Fahrern bei ihrer Fahraufgabe, sodass man von einem „assistierten Modus“ spricht. Beim „automatisierten Modus“ des Levels 3 automatisieren die freigeschalteten Funktionen die Fahraufgabe. Diese Fahrzeuge können zeitweise und in bestimmten Fahrsituationen technisch vollkommen selbstständig fahren, sodass in diesen Phasen kein Kontakt mehr mit dem Lenkrad erforderlich ist. Allerdings müssen die Fahrer nach einer Aufforderung des Fahrzeugs und mit einem definierten zeitlichen Vorlauf das Steuer wieder übernehmen können. Die Nutzung dieser technischen Möglichkeit ist seit dem im Jahre 2017 verabschiedeten Gesetz zum automatisierten Fahren in Deutschland rechtlich erlaubt.
Im „autonomen Modus“ des Levels 4 können Fahrzeuge selbstständig fahren, ohne dass deren Fahrer in der Lage sein müssen, zu übernehmen – die Funktionen handeln damit also quasi autonom bei der Ausführung der Fahraufgabe. Quasi autonom deshalb, weil die Software der Fahrzeuge durch Menschen für nahezu alle nur denkbar bekannten Fahraufgaben programmiert worden ist und es allein dem willensfreien Menschen vorbehalten ist, autonom zu handeln. Der Begriff passt für programmierte Fahrzeuge also nicht.
Die hier vorgestellte Gesetzesnovelle ist für Fahrzeuge des Levels 4 gedacht und ergänzt damit die Novellierung aus dem Jahr 2017.

Welche neuen Regelungen erwarten uns?

Die neuen Vorschriften sollen unter anderem für Shuttle-Verkehre von A nach B gelten, People-Movern (das sind Kleinbusse, die auf einer festgelegten Route unterwegs sind – unser Bild zeigt den von Continental entwickelten CUbE), den führerlosen Einsatz erleichtern und den führerlosen Verkehr zum Beispiel beim Einparken für „Dual Mode Kraftfahrzeuge“ bei einem Vorgang des „Automated Valet Parking” (AVP) zulassen.
Im Wesentlichen gilt das neue Gesetz also für den gewerblichen Personentransport im ÖPNV.
Dazu regeln die neuen Rechtsvorschriften unter anderem
• im neuen § 1e Abs. 2, 3 StVG die technischen Anforderungen an den Bau, die Beschaffenheit und die Ausrüstung von Kraftfahrzeugen mit autonomen Fahrfunktionen,
• im neuen § 1e Abs. 4 StVG die Prüfung und das Verfahren für die Erteilung einer Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen durch das Kraftfahrt-Bundesamt,
• im neuen § 1f StVG die Regelungen in Bezug auf die Pflichten der am Betrieb der Kraftfahrzeuge mit autonomer Fahrfunktion beteiligten Halter /Abs. 1), die technische Aufsicht (Abs. 2) und die Hersteller (Abs. 3),
• im neuen § 1g StVG die Regelungen in Bezug auf die Datenverarbeitung beim Betrieb der Kraftfahrzeuge mit autonomer Fahrfunktion,
• im neuen § 1h StVG die Ermöglichung der (nachträglichen) Aktivierung automatisierter und autonomer Fahrfunktionen bereits typgenehmigter Kraftfahrzeuge („schlafende Funktionen“) und
• im neuen § 1i StVG die erforderlichen Normen für die Anpassung und Schaffung von einheitlichen Vorschriften zur Ermöglichung der Erprobung von automatisierten und autonomen Kraftfahrzeugen.

Anspruch und Wirklichkeit

Geht es nach den Vorstellungen der Bundesregierung, speziell des Bundesverkehrsministers, haben wir ein revolutionäres Gesetzesvorhaben vor uns, das uns den Weg in eine nahezu gefahrlose automobile Zukunft ein Stück weit ebnet.
Die Wirklichkeit dürfte aber dann doch ein wenig anders aussehen.
Zunächst bekennt auch das Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur (BMVI), dass überhaupt noch gar keine Kraftfahrzeuge des Levels 4 existieren, sich allerdings technisch bereits in der Phase der Konzeption und Realisierung befinden. Die Hersteller stehen also in den Startlöchern und wollen in naher Zukunft – erwartet wird der erste Einsatz auf öffentlichen Straßen im kommenden Jahr – mit der praktischen Erprobung starten.
Selbstredend weisen die neuen Vorschriften Lücken auf, von denen manche aus dem Aspekt der Verkehrssicherheit sogar bedenklich sind. So bleibt es weitestgehend unklar, wie sich das in § 1f Abs. 2 StVG neu einzuführende Modell der „Technischen Aufsicht“ bewähren wird. Deren Aufgabe ist es immerhin, die Sicherheit des Fahrens ständig zu überwachen, um in diesem Sinne jederzeit eingreifen zu können, wenn die Technik versagt. Es bleibt unklar, warum diese Person überhaupt von außerhalb besser reagieren kann als eine Aufsichtsperson, die sich gemeinsam mit den Fahrgästen im Fahrzeug befindet. Erhebliche Risiken dürften sich auch mit Blick auf jederzeit mögliche Cyberangriffe ergeben, weil das Fahrzeug ständig mittels Cloudanwendungen kontrolliert und begleitet wird, also ständig online sein muss. Das eröffnet Chancen für Angriffe, zum Beispiel möglicher Erpresser der Unternehmen, die diesen Betrieb auf die Straße bringen.
Ungeklärt ist auch, wie die Leistungsfähigkeit der automatisierten Fahrzeuge über die Jahre im Verkehr validiert werden soll, um notwendige Verbesserungen frühzeitig erkennen zu können und gegebenenfalls aus Sicherheitsgründen die Fortführung zu unterbinden. Ob das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die aus fachlichen Gesichtspunkten geeignete Institution wäre, die Leistungsfähigkeit der autonomen Fahrfunktion im Rahmen einer Feldüberwachung kontinuierlich zu überwachen, darf bezweifelt werden. Besser geeignet wären wohl Organisationen, die sich mit der technischen Überprüfung von Fahrzeugen in ihrer Funktion als staatlich Beliehene seit Jahrzehnten auskennen.
Sollten im Rahmen einer zu fordernden ständigen Qualitätskontrolle in Echtzeit potentiell sicherheitskritische Fehler erkannt werden, muss die Betriebserlaubnis gegebenfalls unverzüglich durch das KBA solange entzogen werden, bis der Fehler durch ein Hard- oder Softwareupdate nachweislich behoben wurde
Zudem erscheint das autonome Fahren in deutschen Innenstädten aufgrund der komplexen Interaktionen mit analogen Verkehrsteilnehmern wie Fußgänger und Radfahrer auf der Basis heutiger Technologien nicht möglich zu sein. Die dafür erforderlichen Rechenkapazitäten und die immer noch regelmäßig für einen Schönwetterbetrieb ausgelegte Fahrzeugsensorik bilden dabei vorerst noch unüberwindliche Hindernisse.
Überhaupt scheint das Gesetz für private Anwendungen gänzlich ungeeignet zu sein, weil private Fahrzeughalter durch die im Gesetz auferlegten Aufgaben deutlich überfordert würden.

Noch nicht ganz ausgegoren

Die Novelle geht sicherlich einen Schritt in die richtige Richtung und könnte auch für die Steigerung der Verkehrssicherheit ein wegweisender Mosaikbaustein sein, müsste aber dringend durch eine nachfolgende Verordnung ergänzt werde, die vorhandene Lücken ergänzt und zu einem Mehr an Rechtssicherheit führt. Es bleibt abzuwarten, was die neue Bundesregierung aus dem neuen Ansatz praktisch machen wird, zumal die Fahrzeughersteller nicht müde werden, bei ihren technischen Innovationen weiter voranzuschreiten – schließlich handelt es sich um einen Weltmarkt, auf dem viel Geld zu verdienen ist und die großen deutschen Automobilhersteller den Anschluss an die in großen Schritten voranschreitenden technischen Entwicklungen in den USA, China, Südkorea und Japan nicht verlieren wollen.

Weiterführende Links:

Informationen des BMVI zur Novellierung
hier klicken

Information des Bundesrates zur Novellierung (bitte zum TOP 71 scrollen)
hier klicken

Foto: Continental 

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.