In China werden die Karten neu gemischt. Und die lokalen Automobilhersteller nehmen vermehrt das Zepter in die Hand. Die Volksrepublik China hält strikt daran fest, bis 2025 die führende High-Tech-Macht der Welt zu werden. Entsprechend rüsten auch die Anbieter der chinesischen Automobilbranche hoch. Peter Fintl, Chinaexperte und Director of Technology and Innovation bei der Technologieberatung Altran, sieht dennoch die Chancen für deutsche und europäische Unternehmen der Automobilbranche positiv. Nachfolgend eine aktuelle Bestandsaufnahme.
Der Motorjournalist: Wie ist der chinesische Automarkt derzeit aufgestellt? Wohin geht hier die Reise, vor allem in Sachen Elektrifizierung?
Peter Fintl: Wir können derzeit beobachten, dass aufgrund strenger Flottenverbrauchsziele die Elektrifizierung in den großen Automärkten massiv von den OEM forciert wird – und auf immer größeres Käuferinteresse stößt. Dieser Epochenumbruch stellt gerade für die chinesischen Player eine gewaltige Chance dar. Verbrennermodelle aus China wurden in westlichen Märkten aufgrund von Technologie und Sicherheit – aber auch aufgrund des Designs – lange eher belächelt. Mit der Elektrifizierung werden die Karten nun neu gemischt: zweifelsohne zu Gunsten der chinesischen Wettbewerber. Natürlich ist auch die regulatorische Macht der KP ein wichtiger Faktor für die automobile Entwicklung des Landes in Richtung E-Mobilität und autonomen Fahrens. China verfolgt eine langfristige Industrie- und Technologiepolitik, ausgedrückt durch den „New Energy Vehicle Industry Development Plan“. Etwa durch gezielte Förderung der sogenannten „New Energy Vehicles“ (NEV) hat sich China mit rund 50 Prozent der weltweiten Zulassungen zum bedeutendsten Einzelmarkt für elektrische Fahrzeuge entwickelt. Obwohl die Förderungen für diese NEVs wie geplant stufenweise reduziert werden, so zuletzt im Januar 2021, rechnet die China Association of Automobile Manufacturers (CAAM) mit nahezu zwei Millionen verkauften Elektrofahrzeugen in diesem Jahr. Die Regierung hält weiter an ihrem Ziel fest, bis 2025 den Zulassungsanteil von NEVs auf 20 Prozent zu steigern – 2020 lag dieser Anteil bei knapp über sechs Prozent. Die geschickte Industriepolitik hat aber eben nicht nur die Hersteller selbst gestärkt. So sind bei den TOP-5 Batterieherstellern weltweit heute mit CATL und BYD auch zwei chinesische Unternehmen hier stark vertreten.
Immer mehr europäische Automobilhersteller sind heute bereits in irgendeiner Form mit chinesischen Autobauern „verbandelt. Sehen Sie diese Tendenz eher als weitere Schwächung der europäischen und vor allem deutschen Vorzeigebranche oder doch eher als Starthilfe für ein künftiges Wiedererstarken europäischer und deutscher Autobauer?
In China müssen ausländische Automobilhersteller – bis auf wenige Ausnahmen – Kooperationen eingehen, um vor Ort überhaupt präsent sein zu dürfen. Dies stellt für China eine hohe Lokalisierung der Wertschöpfung sowie einen stetigen Transfer von Wissen sicher. Man muss anerkennen: Das ist für das Land eine Erfolgsstory. Aber das Kapitel China ist auch für viele westliche Konzerne ein erfolgreiches. Die Strategie des Volkswagen-Konzerns, seit 1985 mit einer Produktion in China präsent, auch dort aktuelle Konzerntechnologien anzubieten, hat sich bewährt. Das Unternehmen stellt mit seinen Joint-Venture Partnern FAW (First Automotive Works) und SAIC (Shanghai Automotive Industry Corporation) seit Jahren die absatzstärkste Markengruppe im Land dar und beschert dem Konzern satte Gewinne.
Längst sind die wirtschaftlichen Beziehungen jedoch keine Einbahnstraße von West nach Ost mehr. Es haben sich verschiedene Partnerschaften entwickelt. Mercedes kooperiert etwa für den elektrischen Smart mit der chinesischen Volvo-Mutter Geely. An diesem Joint-Venture halten beide Parteien 50 Prozent. Die Joint Venture Partner von Daimler in China, BAIC (Beijing Auto) und Geely, haben sich auch in signifikantem Maße am Konzern selbst beteiligt und kontrollieren derzeit rund 15 Prozent der Anteile – Tendenz steigend. Geely ist mit seiner Tochter Volvo derzeit wohl der erfolgreichste chinesische Anbieter in Europa und hat mit der neuen Subbrand Polestar ein vielversprechendes Eisen im Feuer.
China hat immenses Know-how und Kapazität in puncto Batteriefertigung. Ohne chinesische Batteriezellen wären viele deutsche Elektroautos nicht möglich. Hat sich die deutsche Industrie nun in einem Zukunftsmarkt verspekuliert? Wurde man vom Koch zum Kellner? Die Nachrichten vom Tod der deutschen Automobilindustrie sind verfrüht und stark übertrieben. In Deutschland hat man erkannt, dass man in gewissen Bereichen, wie der Fertigung von Batteriezellen, Nachholbedarf hat. Auch auf europäischer Ebene bemüht man sich daher nach Kräften, mit Hilfe klassischer Industriepolitik diese Wertschöpfung auf den Kontinent zu holen. Ich würde festhalten, dass Konkurrenz das Geschäft belebt und Chancen noch für alle Player bestehen.
Was können vor allem die deutschen von den chinesischen Autobauern lernen?
Lernen kann man von der chinesischen Automobilindustrie in meinen Augen in erster Linie, dass eine klare Industriepolitik der Branche nachhaltig sehr nützt. Außerdem kann China mit spannenden Start-ups aufwarten. Eine Marke wie Nio hat es binnen weniger Jahre geschafft, weltweite Anhängerschaft zu gewinnen. Der Nio-Day ist ein mediales Event, wie wir es sonst nur von Tesla kennen. Der Erfolg von Nio spiegelt sich nicht zuletzt in der Marktkapitalisierung von derzeit rund 90 Mrd. US-Dollar wider und ist absolut beeindruckend. Mit Xpeng und Li Xiang gibt es darüber hinaus zwei weitere chinesische EV Anbieter, welche an der Nasdaq notiert sind.
Wie lauten derzeit die wichtigsten Autoplayer auf dem chinesischen Markt und durch welche Angebote, Mobilitätskonzepte fallen Sie und mobilitätsnahe Anbieter besonders ins Auge?
Mit Blick auf die Absatzzahlen dominieren den chinesischen Markt die Konzerne SAIC, Changan Auto, Geely, Dongfeng, und Great Wall mit jeweils mehr als einer Million verkauften Fahrzeugen im Jahr 2020. Es folgen die Unternehmen BAIC, FAW und Chery. All diese Anbieter sind in mehreren Joint Ventures mit ausländischen Herstellern verbunden. Auch wenn 2020 Tesla mit dem lokal gefertigten Model 3 den Markt für elektrische Fahrzeuge anführt, so sind im Hinblick auf die Elektromobilität neben den etablierten Spielern SAIC, Great Wall, GAC und BYD auch die „Neueinsteiger“ interessant: Li Xiang und Nio, beide in den Top 20 mit rund 30.000 Zulassungen vertreten, sowie Xpeng mit rund 15.000 Fahrzeugen. Diese neue Generation von chinesischen Elektrofahrzeugen, wie etwa der BYD Han EV, haben Potential, weltweit ihren Platz zu erobern. Eine weitere Besonderheit des chinesischen Marktes zeigt der Erfolg des Tesla Model 3. Dieses Fahrzeug ist für chinesische Verhältnisse kein Preisbrecher. Es zeigt, der chinesische Käufer ist bereit, für hochwertige, sichere und leistungsfähige Elektrofahrzeuge mehr Geld auszugeben. Gegenüber neuen Mobilitätsdiensten waren chinesische Konsumenten lange Zeit sehr aufgeschlossen und haben Vermittlungsplattformen wie Didi Chuxing zu enormem Wachstum verholfen. Dabei reicht die Spanne von den klassischen Diensten a la Uber bis hin zu Last Mile Services mit Rädern oder Rollern. „Mobility as a Service“ ist ein erklärtes Ziel der chinesischen Regierung und soll langfristig ein landesweites, integriertes Mobilitätssystem etabliert werden. Die Internetgiganten Tencent oder Ant Group bieten schon heute durchgängige Bezahlung für Busse, U-Bahnen, Züge, Flugzeuge oder Last Mile Mobility an. China hat in diesem Bereich durchaus den Charakter eines Schrittmachers. Einen potenziellen Einschnitt in diese Erfolgsgeschichte der multimodalen Mobilität wird die Corona-Pandemie verursachen. Überfüllte U-Bahnen oder Busse möchten nun viele Konsumenten gerne gegen ein eigenes Fahrzeug eintauschen. Dies wird dem chinesischen Automarkt in diesem Jahr zu einem spürbaren Wachstum verhelfen. Mittelfristig führt jedoch aufgrund der Verkehrssituation in den chinesischen Megastädten kein Weg an geteilter Mobilität vorbei.
Beispielsweise in Sachen autonomes Fahren sind chinesische Anbieter weit vorn. Sind diese Kooperationen sinnvoll für heimische Autobauer, auch wenn es damit zu einer immer größeren Abhängigkeit vom chinesischen Markt kommen wird?
Die Zusammenarbeit mit chinesischen Konzernen oder großen Technologie-Playern, wie etwa Baidu oder Tencent, ist meines Erachtens nicht per se schlecht. Es werden vielmehr sinnvolle Kooperationen für die hiesige Industrie sein. Abgesehen davon sind für das erfolgreiche Agieren im chinesischen Markt lokale Kooperationen und Joint Ventures ohnehin oft unvermeidbar. Die Regierung weiß dies entsprechend zu steuern. Ein Zurück zum Gestern, wo man als Automobilhersteller alles allein mit seinem lokalen Lieblingslieferanten erfinden konnte, gibt es ohnehin nicht mehr. Die großen Technologietrends sind für die Automobilindustrie nur mit Partnerschaften und Kooperationen umzusetzen. Man denke etwa an Bereiche wie Cloud Computing oder 5G. Dabei ist es rein von der Technologie her nicht unbedingt entscheidend, ob die Partner aus Kalifornien oder Shanghai kommen. Wie man es aber mit der Datenhoheit und dem Datenschutz hält – das ist eine andere Geschichte.
Die automotiven Megatrends bieten für die nächsten Jahre noch großartige Chancen – auch für die heimischen Anbieter. Es gilt, die Realität anzuerkennen: Das Biegen von Blech wird in den kommenden Jahren ein sekundärer Teil der Wertschöpfung sein. Entscheidend für den Erfolg ist die richtige Softwareplattform, das beste Infotainment und die fortschrittlichste Fahrerassistenz. Hier sollte man als europäische Industrie Chancen ergreifen, Know-how zu sammeln und sich als Teil von Ökosystemen zu etablieren. Abgefahren ist der Zug nicht – er rollt aber gerade an.
Ihre Einschätzung zur Zukunft der europäischen/deutschen Automobilindustrie versus der chinesischen: Wird die chinesische Offensive zur Gefahr für heimische Wettbewerber?
Hier gilt es zwei Aspekte zu unterscheiden. Erstens, rein chinesische Fahrzeuge können kurzfristig keine nennenswerten Marktanteile in Europa oder den USA erringen. Der europäische Automarkt ist sehr kompetitiv und der Aufbau eines Händlernetzes kostspielig. Auch wenn chinesische Hersteller nun einige interessante Elektrofahrzeuge anbieten – die Batteriekosten sind der bestimmende Faktor und hier kann derzeit niemand zaubern. Die „elektrische Revolution“ aus China wird 2021 noch nicht stattfinden. Europäische Hersteller können ihre elektrischen Modelle in den lokalen Märkten etablieren. Zweitens, China ist für alle deutschen OEMs ein entscheidender Absatzmarkt und somit wird der Konkurrenzkampf vor Ort deutlich zunehmen. Der Kuchen, den es zu verteilen gibt, wächst zwar weiter, jedoch wollen immer mehr, vor allem chinesische Anbieter, ihr Stück davon sichern. Unterschätzen darf man auch die Finanzkraft der chinesischen Platzhirsche nicht. Es ist nicht auszuschließen, dass über Zukäufe der Chinesen in den nächsten Jahren noch „tektonische Verschiebungen“ in der Branche stattfinden werden. So hält die Volksrepublik unverändert an ihren Zielen fest, bis 2025 die führende High-Tech Macht der Welt zu werden. Auch der jüngste 5-Jahresplan zielt entsprechend der „zwei Kreisläufe“ darauf ab, den Binnenkonsum anzuheizen und die Export-Abhängigkeit zu reduzieren. China wird also seinen Heimatmarkt weiter schützen und eigene Unternehmen bevorzugen. Die Regierung setzt darauf, einheimischen Technologieriesen auf Dauer ihre Markt- und Technologieführerschaft zu sichern. Wir sehen heute bereits Allianzen von Baidu und Geely, Alibaba mit SAIC oder DiDi Chuxing mit BYD. Diese Allianzen der chinesische Technologiespieler sind durchaus als Antwort auf die Auto-Pläne von Amazon, Apple und Co zu verstehen. So spielen Firmen wie Baidus Apollo oder Alibabas AutoX im Bereich des autonomen Fahrens ebenfalls vorne mit.
Wie sehen Sie die mittelfristige Entwicklung der heimischen Autobauer?
Aus meiner Sicht ist die Zukunft zwar herausfordernd, jedoch insgesamt positiv zu bewerten. Die Dekarbonisierung ist als Herausforderung von den OEMs verstanden und angenommen worden. Die heute verfügbaren E-Modelle sind konkurrenzfähig und die Produktpipeline ist bei den Herstellern gut gefüllt. Die Transformation der Wertschöpfungsketten, Stichwort von Verbrennungsmotoren hin zur Zellfertigung, ist angestoßen. Es bleibt anspruchsvoll – aber schaffbar. Im Ringen um den zweiten großen Trend, die Vernetzung beziehungsweise das autonome Fahren, wird es schwieriger. Im Alleingang gegen die Techgiganten, auch denen aus China, zu bestehen ist selbst für große Hersteller keine Selbstverständlichkeit. Man sieht, dass die strategischen Weichen neu gestellt werden. „Software first“ ist der Slogan. Offen ist, ob sich die deutschen Hersteller in einem Ökosystem zusammenfinden oder ob man einzeln in Mountain View oder Shenzhen sein Heil findet. Der Kampf um die Führerschaft ist noch nicht entschieden!
Text und Foto: Isabella Finsterwalder
Titelbild: Wei Zhu/Pixabay
Peter Fintl, Director of Technology and Innovation der Technologieberatung Altran. Er ist Experte für die Themen Elektrifizierung und Konnektivität. Fintl war als Automobilexperte für sieben Jahre in der Volksrepublik China tätig.