Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), im Gespräch: Das moderne Auto als Teil der individuellen Freiheit bleibt auch künftig unverzichtbar
Sie ist seit Februar dieses Jahres das Sprachrohr der Automobilindustrie: Hildegard Müller. Wenngleich sie kein Pflänzchen der Branche ist, so ist sie autoaffin und kämpft seit ihrem nahezu zeitgleich zur ausgebrochenen Pandemie erfolgten Amtsantritt vehement für die Zukunft ihrer Mitglieder. Ihre Botschaft, um die derzeit größte Transformation der Branche überhaupt zu bewältigen: Angebot eines intelligenten Mix an Antrieben – vom batterieelektrischen Auto, über den Plug-in-Hybrid bis hin zu sparsamen und emissionsarmen Fahrzeugen mit hochmodernen Benzin- und Dieselmotoren –, aber auch eine kraftvolle Unterstützung der Politik. Mehr dazu im nachfolgenden Interview.
Die vom VDA geforderte Kaufprämie wurde von der Bundesregierung in der ursprünglich geforderten Form nicht umgesetzt. Welche Folgen hat das für die Branche?
Hildegard Müller: Das Konjunkturpaket der Bundesregierung enthält viele Maßnahmen, die auch wir im VDA gefordert haben und ausdrücklich befürworten. Zu den positiven Punkten gehören zum Beispiel der erweiterte Verlustrücktrag, die Verstärkung der degressiven Abschreibung (AfA), die Senkung der EEG-Umlage, der Ausbau der öffentlichen Ladeinfrastruktur und die Umsetzung der Nationalen Wasserstoffstrategie. Auch die direkte Unterstützung von Investitionen der Automobilindustrie in Innovationen ist ein richtiger Ansatz. Von einem Bonusprogramm für Zukunftsinvestitionen in den Regionen sollen Hersteller und Zulieferer mit einem Gesamtvolumen von zwei Milliarden Euro profitieren. Der wichtige Bereich der Nutzfahrzeuge soll neben der Mehrwertsteuerbefreiung durch ein europäisches Flottenerneuerungsprogramm unterstützt werden.
Wir haben darauf hingewiesen, dass das Elektrosegment zwar schnell wächst, dass es aber angesichts des geringen Marktanteils von gut acht Prozent noch zu klein ist, um einen starken Nachfrageimpuls im gesamten Automobilmarkt auszulösen. Trotzdem begrüßen wir die zusätzliche Förderung für Elektroantriebe. Auch die auf ein halbes Jahr beschränkte Absenkung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte ist eine wichtige Unterstützung und betrifft zwar alle Antriebsarten und Fahrzeugsegmente, aber ihre Wirkung wird wahrscheinlich geringer ausfallen als eine Kaufprämie für alle Neuwagen. Die im VDA organisierten Unternehmen geben diese Senkung an die Kunden weiter. Wir werden die Umsetzung und Wirkung all dieser Maßnahmen eng begleiten und behalten uns vor, je nach konjunktureller Lage erneut Gespräche mit der Regierung zu suchen.
Was unternimmt der VDA für seine Mitglieder, damit die Branche bestmöglich aus der Krise hervorkommt?
Viele Unternehmen in Deutschland und Europa sind dringend auf Impulse angewiesen, da sie die Krise nicht ohne ein schnelles Anspringen der Konjunktur und konkrete, zielgerichtete Maßnahmen zur Unterstützung des Neustarts durchstehen können. Sollten die angekündigten Mittel erst im Laufe des kommenden Jahres fließen und die Unterstützung dann auch erst langsam anlaufen, könnte es angesichts der vielfach angespannten Liquiditätssituation für viele Unternehmen bereits zu spät sein. An vielen Stellen müssen die im Konjunkturpaket enthaltenen Maßnahmen auch noch konkretisiert und in Förderrichtlinien umgesetzt werden. Hier bringen wir uns ein und sind mit der Politik in engem Austausch.
Wie stehen Sie zu einer politischen Bevorzugung des E-Antriebs versus weiterer grüner Antriebe?
Mit Blick auf die internationalen Märkte, Wachstum und Beschäftigung brauchen wir weiterhin einen intelligenten Mix an Angeboten: vom batterieelektrischen Auto bis hin zu sparsamen und emissionsarmen Fahrzeugen mit hochmodernem Benzin- und Dieselmotor. Auch der Plug-in-Hybrid bietet hier große Chancen: Er verbindet das Beste aus zwei Welten – emissionsfreies Fahren auf kürzeren und mittleren Strecken, mit der nötigen und effizienten Reichweite und auch auf der Langstrecke. Zum Erreichen des großen Ziels der klimaneutralen Mobilität muss aber auch die Nutzung von Wasserstoff und erneuerbaren E-Fuels an Bedeutung gewinnen. Klar ist aber auch: Die 2030-Ziele der EU werden wir nur mit der Elektromobilität schaffen, also mit BEV und PHEV.
Wie „verkaufen“ Sie als VDA umweltfreundliche Antriebe gegenüber der Politik?
Zunächst einmal müssen wir unseren Kunden den Umstieg auf alternative Antriebe schmackhaft machen. Und dazu wiederum brauchen wir die Hilfe der Politik. Ein Beispiel: Solange den Kunden eine flächendeckende, funktionierende Ladeinfrastruktur fehlt, solange wird es bei vielen noch eine Kaufzurückhaltung beim E-Antrieb geben. Die Automobilindustrie leistet ihren Beitrag. Mit Investitionen in Höhe von allein 50 Mrd. Euro in neue Antriebe und weiteren 25 Mrd. Euro in die Digitalisierung bis zum Jahr 2024 investieren unsere Mitgliedsunternehmen erheblich in die Transformation der Mobilität. Die E-Modellpalette unserer Marken wird von aktuell 70 auf mehr als 150 Modelle bis Ende 2023 mehr als verdoppelt. Zudem haben die deutschen Hersteller ihren Marktanteil bei Neuzulassungen von E-Autos in Deutschland in den ersten sechs Monaten auf 67 Prozent deutlich erhöht. Sieben der zehn meistverkauften E-Modelle kommen von deutschen Konzernmarken.
Allen voran das Autoland Bayern will bis Herbst ein neues Konzept für Corona-Hilfen vorlegen. Dazu sollen u.a. auch Niedersachsen und Baden-Württemberg mit ins Boot geholt werden. Wie beurteilen Sie diese Aktivitäten für die Branche?
Das zweite Halbjahr 2020 ist sehr herausfordernd für die Automobilindustrie. Es geht um die Bewältigung der Corona-Krise, die Transformation hin zu Klimaschutz und Digitalisierung, um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und um die Zukunft der EU. Diese Krise trifft die Wirtschaft und unsere Branche massiv, sie greift den industriellen Kern und damit die Basis von Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung an. Wir brauchen jede Unterstützung, um diese industrielle Basis zu stärken. Es gilt, die Konjunktur schnell und umfassend zu beleben, um so die Nachfrage zu stärken und unseren Unternehmen und deren Beschäftigten eine Perspektive zu geben. Wir begrüßen daher ausdrücklich die Überlegungen der Bundesländer.
Conti Chef Degenhart spricht sogar davon, dass die Branche einen Herzstillstand erlitten hat, und fordert ebenfalls von der Politik weitere Unterstützung…
Die Automobilindustrie wird die Fahrzeuge und Mobilitätskonzepte liefern, die dem Umwelt- und Klimaschutz gerecht werden. Aber sie braucht dafür auch kraftvolle Unterstützung durch die Politik. Nötig ist neben vielen anderen Punkten ein rascher Ausbau der Ladeinfrastruktur, um den Hochlauf der Elektromobilität zu fördern. Dort – wie im Bereich digitaler Mobilitätslösungen – gilt, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren insgesamt schneller werden müssen, weitere Entlastungen bei der Bürokratie oder eine Unternehmenssteuerreform würden zudem unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken. Und in einem Land mit dem Anspruch, führend im Bereich Mobilität zu sein, würde ich mir zudem wünschen, dass wir uns weniger auf Verbote konzentrieren und öfter die Zukunftsthemen diskutieren – und darüber, dass getroffene Klimaschutzmaßnahmen konsequent umgesetzt werden sollten, bevor ständig neue Vorgaben gemacht werden.
Ganz generell gesprochen: Wie sollten sich Hersteller und Zulieferer in der derzeitigen Situation verhalten?
Es gibt erste Hinweise darauf, dass die Talsohle der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht ist und es in der zweiten Jahreshälfte wieder leicht aufwärts gehen könnte – aber immer noch deutlich unter dem Vorjahresniveau. Ein Indiz hierfür ist der inländische Auftragseingang: Er lag in den ersten sechs Monaten zwar noch um 28 Prozent unter dem Niveau des Vorjahreszeitraums. Aber: Alle Prognosen stehen unter dem Vorbehalt, dass wir die Pandemie im Griff behalten. Die Ausbreitung des Virus scheint in Deutschland aktuell im Wesentlichen noch unter Kontrolle. Doch regionale Ausbrüche und die vermehrte Reisetätigkeit im Kontext der Sommerferien bergen enorme Gefahren. Wir dürfen jetzt nicht leichtsinnig werden. Eine ‚zweite Welle‘ hätte neben der gesundheitlichen Gefahr auch enorme wirtschaftliche Folgen, die noch viel schwerer zu verkraften sein dürften. Unsere Bemühungen für den Gesundheitsschutz unserer Kunden und Mitarbeiter gehen daher unvermindert weiter.
Die im kommenden Jahr erstmals in München stattfindende IAA sehen Sie klar als Impulsgeber für eine neue Mobilität. Wie wird aus Ihrer Sicht diese neue Mobilität aussehen?
Moderne Mobilität ist Vielfalt, sie verbindet – und überwindet das ‚Entweder-oder-Denken‘. Mobilität ist nicht Stadt oder Land. Sie ist nicht E-Bike oder Auto. Sie ist beides. Die IAA 2021 wird den Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit breiten Raum einräumen – mit sauberen, sparsamen Antrieben und Automobilen der modernsten Generation, mit einem umfassenden Mobilitätsmix einschließlich Pkw, E-Bikes, E-Scootern und der Einbindung des ÖPNV. Die neue IAA will die ganzheitliche Mobilitätskette abbilden: Jeder, der Mobilität gestalten möchte, kann Teil des Events werden. Mikromobilität, ÖPNV, Fahrradhersteller, Technologieunternehmen – der Vielfalt werden keine Grenzen gesetzt. Etablierte Marken treffen auf Start-ups, das Auto trifft auf weitere Akteure der gesamten Mobilitätsbranche. Es wird sicher spannend, sich die neue IAA anzusehen.
Wird die erfolgsverwöhnte deutsche Autoindustrie einmal wieder an ihre alte Stärke anknüpfen können oder wird es in der sogenannten neuen Mobilität zu einer neuen Verteilung zwischen den Verkehrsträgern kommen? Von welchen Faktoren ist dies abhängig?
Wir begreifen diese bislang größte Transformation in der Geschichte der Automobilindustrie als Chance – für neue Produkte und Angebote und für mehr Klimaschutz. Auch wenn der Wandel unter anderem ein disruptiver Prozess sein wird, der Arbeitsplätze kostet und so gestaltet werden muss, dass soziale Verwerfungen möglichst weitgehend vermieden werden. Wir sind davon überzeugt, dass moderne und effiziente Automobile weiterhin ein ganz entscheidender Bestandteil von Mobilitätslösungen sein werden. Mehr als drei Viertel der Personenverkehrsleistung werden in Deutschland mit dem Pkw absolviert. Gerade Menschen, die in ländlichen Räumen leben und arbeiten, sind auf das eigene Auto angewiesen. Es gibt häufig noch keine überzeugende Alternative, die Vernetzung der Verkehrsträger ist oft unzureichend. Die meisten Menschen werden auch künftig nicht auf das Auto verzichten können – und das auch nicht wollen. Individuelle Mobilität hat auch etwas mit individueller Freiheit zu tun. Mit Teilhabe am sozialen Leben und der Möglichkeit, flexibel reisen zu können. In Zeiten von Corona hat jeder eindrücklich erfahren, wie wichtig diese Freiheit ist.
Frau Müller, herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Isabella Finsterwalder