//Müllers Kolumne: StVO-Novelle

Müllers Kolumne: StVO-Novelle

Duplizität und Zitiergebot oder Geschichte wiederholt sich nicht, so eine landläufige Annahme. Manchmal aber eben doch.

Vor elf Jahren erließ der damalige Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee die bis dato größte Reformnovelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) unter dem plakativen Begriff der „Schilderwaldnovelle“. Der Schilderwald an deutschen Straßen sollte gelichtet und die Vorschriften den Verkehrsteilnehmern, die sie schließlich stets beachten sollen, en passant verständlicher erklärt werden. Die Reform hatte allerdings einen schweren juristische Fehler, nämlich einen Verstoß gegen das verfassungsrechtlich in Artikel 80 Absatz 1 des Grundgesetzes verankerte Zitiergebot. Diese Vorschrift soll, so das Bundesverfassungsgericht in einer Leitentscheidung, „nicht nur das ermächtigende Gesetz als solches, sondern die ermächtigende Einzelvorschrift aus dem Gesetz in der Verordnung“ genau benennen. Ziel des Ganzen: Der betroffene Bürger soll genau wissen und nachvollziehen können, was ihm die Verwaltung (ja, auch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, BMVI, zählt zur Exekutive) als Vorschriften auferlegt und ob der Gesetzgeber genau diese Veränderung als Verordnungskompetenz gestattet hat.
Damals hielt sich der Nachfolger Tiefensees, Peter Ramsauer, für befugt, die Reform seines Vorgängers für nichtig zu erklären. Der Verfasser dieser Zeilen machte damals den Minister darauf aufmerksam, dass diese Kompetenz nur einem Verwaltungsgericht zusteht. Es dauerte dann bis 2013, den juristischen Fauxpas zu heilen und die fehlerhafte Vorschrift durch eine rechtmäßig erlassene Novelle zu ersetzen.

Aktuell steht Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer vor demselben Dilemma. Am 28. April trat eine Reform von StVO, Bußgeldkatalog-Verordnung und anderer begleitender Vorschriften in Kraft, mittels derer unter anderem mehrere Sanktionen für Verstöße gegen Verhaltensvorschriften verschärft wurden. Stein des Anstoßes waren zahlreiche, durch eine gewollte Verschärfung der Bundesländer vom Bundesrat eingefügte neue Fahrverbote. Von denen waren zwar ausschließlich diejenigen Autofahrer betroffen, die gegen die verschärften Vorschriften verstoßen haben, sich aber ungerecht behandelt fühlten, weil sie für dieselben Verstöße in der Vergangenheit nur ein – oftmals in den persönlichen Fahrstil einkalkuliertes – Bußgeld bezahlen mussten.
Lauthals und öffentlichkeitswirksam beschwerten sie sich beim Bundesverkehrsminister, ohne allerdings einen Formalverstoß gegen das Zitiergebot zu rügen. Erst Ende Juni sah man sich, offenbar nach intensiver Suche, die im Bundesgesetzblatt offen nachzulesende Präambel zur neuen Novelle etwas näher an und stellte mit großem Erstaunen fest, dass dort der zitierende Verweis auf die Rechtsgrundlage für die Veränderung von Fahrverboten, die Vorschrift des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG, fehlte. Etwas verwunderlich, weil die beiden im selben Paragraphen zu findenden Rechtsgrundlagen für die Verschärfung von Verwarnungsgeldern und Bußgeldern sorgsam erwähnt wurden. Sollte gerade die entscheidende Rechtsgrundlage für die ungeliebten Fahrverbote fahrlässig übersehen worden sein?

Wer ist überhaupt für einen solchen juristischen Kardinalfehler verantwortlich?

Für das in der Präambel enthaltene Zitiergebot ist allein das BMVI zuständig, also personell der Verfasser des Referentenentwurfs, der seinem Minister gegenüber weisungsunterworfen ist. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Präambel nach der vom Bundesrat dem BMVI aufoktroyierten Verschärfung verfasst wurde, und zwar ohne eine nochmalige Beteiligung der Bundesländer. Eine solche ist auch unüblich;  denn schließlich sollte man davon ausgehen dürfen, dass ein Volljurist und Referent für die StVO die formellen Regularien der Rechtsetzung beherrscht.

Die möglichen Konsequenzen dieses Schlamassels

Diejenigen Teile der Reform, die nichts mit Fahrverboten zu tun haben, bleiben in Kraft, also sämtliche erfolgten Änderungen der StVO. Einige Bundesländer, allen voran das Saarland und Bayern, haben bereits angekündigt, ab sofort den alten Bußgeldkatalog anzuwenden – ein juristisch nicht ungefährliches Unterfangen, weil sie damit bewusst gegen geltendes Bundesrecht verstoßen; denn eine Verordnung gilt so lange, bis sie von einem Gericht kassiert worden ist. Zudem ist im alten Bußgeldkatalog gar kein Bußgeld für zum Beispiel einen Verstoß gegen die neu eingefügte Regelung des § 9 Abs. 6 StVO, also die Schrittgeschwindigkeit beim Abbiegen mit Lkw, zu finden.
Die politische Verantwortung trägt zwar ganz allein der Bundesverkehrsminister, aber den Schaden haben wir alle durch den Verlust an Verkehrssicherheit, weil nunmehr zugunsten der (vorerst) verschonten Schnellfahrer auch derjenige kein Fahrverbot erhält, der keine Rettungsgasse bildet oder eine solche unerlaubt benutzt. Es bleibt nur zu hoffen, dass nicht wiederum drei Jahre ins Land gehen, bis der ärgerliche Fehler beseitigt wird. Im nächsten Jahr ist Bundestagswahl und danach gibt es einen neuen Bundesverkehrsminister, der die Scharte seines Amtsvorgängers auswetzen kann.

Quellen:
Bundesgesetzblatt 2020 Nr. 19 Seite 814 https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl120s0814.pdf%27%5D__1593781804168
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/schilderwald-novelle-ein-minister-erklaert-die-welt-fuer-nichtig/

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit

Foto: Pixabay/Peter H.