Im Straßenverkehr geht es zu wie im echten Leben: Wenn alle nur an sich denken, kommt niemand richtig voran. Da wird die Vorfahrt genommen (oder verbissen darauf beharrt), die Hupe als gemäßigte Form des Wegscheuchens oder als „erzieherisches Mittel“ eingesetzt, da wird gedrängelt, geschnitten und zu schnell gefahren – kein Wunder, dass der Verkehr nicht rundläuft.
2016 meinte mehr als jeder zweite Teilnehmer einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR), dass der Straßenverkehr aggressiver wird. Drei Jahre später, bei einer Befragung der Versicherungswirtschaft, gaben neun von zehn Menschen im Alter von 30 bis 59 Jahren an, dass sie den Straßenverkehr als rücksichtslosen und teilweise aggressiven Ort erlebten. Dabei kann es gut sein, dass die Rambos unter den Verkehrsteilnehmern bei weitem nicht in der Mehrzahl sind – sie tun nur so.
Die Forschung steht beim Verkehrsklima noch ziemlich am Anfang. Das zeigt die Auswertung einer repräsentativen Befragung aus dem vergangenen Jahr im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen. Dabei sollten Wissenschaftler in Erfahrung bringen, wie die Verkehrsteilnehmer das Klima auf den Straßen wahrnehmen. Als Resultat kam exakt die statistische Mitte zwischen den Bewertungspolen „positiv“ und „negativ“ heraus. Das ist nicht besonders aussagekräftig, also müssen die Untersuchungsmethoden präzisiert werden.
Mehr Verkehr kann für Aggression sorgen
Der Verkehrspsychologe Hardy Holte weist auf zwei Probleme für die Wissenschaft hin: Erstens, aus der Unfallstatistik lässt sich die Bedeutung von Aggressivität für die Verkehrssicherheit nicht ableiten, weil die Zahlen allein keine Rückschlüsse erlauben, wie ein Unfall „motiviert“ war. Zweitens, -auch bei Umfragen ist Vorsicht geboten, weil bereits aggressiv eingestellte Verkehrsteilnehmer sich kaum über ein ruppiges Verkehrsklima beschweren werden. Das heißt jedoch nicht, dass die Wissenschaft bei null steht. Im Gegenteil. Holte stellte in einem Vortrag beim diesjährigen Verkehrsgerichtstag im Januar eine aufschlussreiche Systematik der sozialen und individuellen Ursachen für aggressives Verkehrsverhalten vor. Dabei wies er auf das wachsende Verkehrsaufkommen hin, das allein schon die Wahrscheinlichkeit von aggressiven Begegnungen erhöhe. Hinzu kommen Staus und Baustellen, die den Verkehr noch zähflüssiger machen und Anlass zu Ärger und Frust geben. Wenn sich dann noch andere Verkehrsteilnehmer unbesonnen oder gar egoistisch verhalten, könne sich das bis zum „auslösenden Grund“ für Beschimpfungen und Ausraster steigern.
Subjektive Umstände spielen eine Rolle
Holte hebt hervor, dass Faktoren von außerhalb des Verkehrsgeschehens starken Einfluss haben. Bedrückende Lebensumstände wie Arbeitslosigkeit, Zeitdruck oder familiäre Probleme könnten sich in einer konkreten Verkehrssituation negativ auswirken. Die objektiven Umstände haben aber immer auch ihre subjektive Seite, also wie sich ein Mensch mit seinen Einstellungen und seiner Haltung auf andere bezieht: Ist man gleichgültig gegenüber seinen Mitmenschen, oder bringt man Einfühlungsvermögen auf? Sucht jemand im Straßenverkehr das kitzelnde Abenteuer, kann das zu einer „geringeren Hemmschwelle für das Ausleben aggressiver Impulse“ führen, stellt Holte fest.
Wichtig ist auch, so der Verkehrspsychologe weiter, wie man eine ärgerliche Situation interpretiert: „Schreibt zum Beispiel ein Autofahrer einem Drängler eine Absicht zu, dann wird eine aggressive Gegenreaktion mit großer Wahrscheinlichkeit stärker ausfallen.“ Fehlende Kommunikationsmöglichkeiten zwischen zwei Autofahrern, die abgeschottet in ihrem Karossen sitzen, kann ebenfalls hitzige Reaktionen begünstigen. Speziell für junge Fahranfänger sind provozierende Erlebnisse eine Herausforderung, weil ihnen Erfahrung fehlt und sie weniger „gereift“ sind.
„Hallo Partner, danke schön!“
Andererseits ist jemand mit einer mitdenkenden und verantwortungsbewussten Einstellung durchaus in der Lage, Zwistigkeiten erst gar nicht entstehen zu lassen und brenzlige Situationen zu entschärfen. An Maßnahmen hält Hardy Holte prinzipiell solche für geeignet, welche die Hemmschwelle zu grobem Verkehrsverhalten anheben: etwa Schritte hin zu einem flüssigeren Verkehr, den Einsatz von Assistenzsystemen, die den Fahrer in schwierigen Situationen unterstützen, oder auch ganz allgemein bessere Lebensumstände, die weniger Zeitdruck und Stress bedeuten. „Begegnungssituationen“ wie unübersichtliche Kreuzungen in der Innenstadt, die den Konflikt bereits in sich bergen, sollten entschärft und Möglichkeiten der Kommunikation erdacht werden. Aber auch die Verkehrsteilnehmer können etwas tun, etwa den Sicherheitsabstand einhalten und den von anderen respektieren.
„Eine Reduktion aggressiver Verhaltensweisen geht auch einher mit einer Verkehrskultur, in der sich alle Verkehrsteilnehmer mit mehr Rücksicht und den Regeln entsprechend verhalten“, so lautet Holtes vielleicht perspektivreichste Erkenntnis. Dabei mag ein Blick in die Geschichte erhellend sein: In den 70er Jahren propagierte der DVR erfolgreich verkehrspartnerschaftliches Verhalten unter dem Slogan „Hallo Partner, danke schön“. Auf pfiffige Weise wurden die Verkehrsteilnehmer informiert, aufgeklärt und sensibilisiert: Jeder einzelne hat es in der Hand, dass alle sicher, gut und zügig ans Ziel kommen. – „Fahren Sie bitte vorsichtig – immer!“
Kristian Glaser (kb)
Foto: DVR