- Medien machen Senioren unbeholfener als sie wirklich sind
- Teils schmerzliche Lernprozesse aber unumgänglich
- DVR: „Ein Leben lang für den Straßenverkehr lernen“
Physisch wie intellektuell erreicht der Mensch den Gipfel seiner Leistungsfähigkeit in jüngeren Jahren – gleich ob als Sportler, als Herr Jedermann im Berufsalltag oder gar als Nobelpreisträger insbesondere in den naturwissenschaftlichen Disziplinen. Eine Tätigkeit dagegen scheint ganz aus der Reihe zu tanzen: Das Autofahren. Hier liegt der Gipfel sicheren Tuns in dem Alter, in dem der Rentenbescheid unterwegs oder schon eingetroffen ist – und dies entgegen allen täglichen Mutmaßungen in „Presse, Funk und Fernsehen“. Fakt ist: Sicherer als die Jungsenioren sind andere im Schnitt nicht unterwegs. Jedoch auch diese Statistik hat ihre Tücken – oder in der verkürzten Aussage große Lücken.
In der Tat ist es so, dass die Altersgruppe 60 – 64 Jahre auffallend selten im Verkehr aneckt. Wer heutzutage dieses Alter erreicht, lenkt Autos schon ein Leben lang. Die Fahrweise ist nachhaltig habituiert, und nachlassende kognitive Fähigkeiten fallen zunächst noch kaum ins Gewicht. Das fahrleistungsbezogene Risiko, einen Unfall mit Personenschaden zu verursachen, bleibt somit vergleichsweise gering. Dass es in Deutschland kein generelles „Screening“ für ältere Fahrer gibt, ist in Fachkreisen kaum umstritten. Diese Haltung vertritt auch Professor Dr. Bernhard Schlag beim Presseseminar des Deutschen Verkehrssicherheitsrats („Ein Leben lang für den Straßenverkehr lernen“). Damit stimmt der Verkehrspsychologe von der TU Dresden auch dem Deutschen Verkehrsgerichtstag überein, der erst in diesem Frühjahr „Für die Einführung genereller, obligatorischer und periodischer Fahreignungsüberprüfungen gibt es derzeit keine Grundlage“ postuliert hatte.
„Alter ist kein Kriterium“
Der regelmäßige Konsum der Meldungen aus dem Polizeibericht regt die Phantasie zu anderen Schlussfolgerungen an. Beobachter sind der Auffassung, dass bei Unfällen mit spektakulären Verlauf, wenn auch oft mit vergleichsweise geringfügigen Folgen, das Alter des Verursachers oder der Verursacher gleich im ersten Satz herausgestellt wird. Fehlt es, darf von einem jüngeren Verursacher ausgehen. „Seniorin verwechselt Bremse mit dem Gaspedal und fährt in die Schaufensterscheibe des Blumenladens…“ etc. Man mag den Berichterstattern mitunter zu mehr Phantasie und Realitätssinn raten, statt diese stereotype Worthülse zu strapazieren. Man probiere es im engen Fußraum einmal selber aus und hinterfrage als Leser gegebenenfalls die fehlende Altersangabe in der Meldung.
Wenn im Grunde das Alter „kein Kriterium“ sei, so kann man nicht übersehen, dass – an dieser Stelle schon früher berichtet – ab etwa 75 Jahren das Unfallrisiko signifikant ansteigt. Es verdoppelt sich gegenüber den Fahrern 60 plus in der Gruppe 75 – 79 Jahre und steigt ab 85 Jahren sogar um den Faktor drei – im Schnitt. Die meisten Probleme älterer Fahrer – mit weitem Abstand vor den jüngeren – entstehen im Stadtverkehr durch Fehler beim Abbiegen sowie Ein- und Anfahren und vor allem bei Überforderung in Vorfahrt- oder Vorrangsituationen. Unangepasste Geschwindigkeit, wo die Jungen weit führen, sind kein Thema mehr. Man weiß in der Tiefe des Herzens um nachlassende kognitive Fähigkeiten und fährt intuitiv langsamer.
„Unterstützende Maßnahmen, die Lernimpulse geben und ungünstige Altersentwicklungen modifizieren können, sind umso wichtiger“, sagt Schlag. Einiges spreche dabei für eine in Grenzen optimistische Sicht. Ältere Menschen seien hochmotiviert, die selbständige Mobilität zu bewahren. Sie hätten viel Erfahrung. Das erlaube, vorausschauend Situationen zu vermeiden, in denen schnell reagiert werden muss. Sie führen langsam und nicht zu allen Zeiten, etwa nicht in Dunkelheit und Dämmerung. Andererseits fehle es oft an Einsicht in zurückgehende sensorische, kognitive und motorische Fähigkeiten. Diese Entwicklung zu verinnerlichen, ist für viele schmerzhafter Lernprozess. Es ist nicht leicht, die notwendige Selbstakzeptanz zu entwickeln und die unabwendbaren Veränderungen des Alters wahrzunehmen.
Nicht nur Hänschen – auch Hans kann noch lernen
Schlag unterstützt die Empfehlung des diesjährigen Verkehrsgerichtstages: „Instrumente zur besseren Einschätzung der eigenen Fahrkompetenz sind zu entwickeln und wissenschaftlich zu evaluieren. Vorgeschlagen wird eine qualifizierte Rückmeldefahrt, deren Ergebnis ausschließlich dem Betroffenen mitgeteilt wird.“ Eine besonders empfohlene „niederschwellige“ freiwillige Maßnahme kann eine Trainings- und Rückmeldefahrt sein. Ein Forschungsvorhaben des Leibniz Instituts für Arbeitsforschung an der TU Dortmund belegte, dass die Fahrkompetenz der älteren Automobilisten durchaus erhöht werden kann. Männer und Frauen im Alter von 70 oder darüber stellten sich im Realverkehr auf einem innerstädtischen Rundkurs schwierigen, komplexen Fahraufgaben (Spurwechsel, links abbiegen, navigieren in komplexen Kreuzungen). Das Kontrollgruppendesign der Studie maß die Leistungen auch anhand des Vergleichs mit den Leistungen Jüngerer mittleren Alters um Vierzig.
Die Jungen, die das zu beobachtende Ergebnis sozusagen eichten, befuhren den Kurs zur Standortbestimmung einmal, die Senioren insgesamt viermal. Vor dem Start war der konkrete Streckenverlauf jeweils nicht bekannt. Die junge Referenzgruppe schloss mit der Note 1,8 ab (Median), die älteren Herrschaften kamen immerhin noch auf 2,2. Nach Trainings mit Fahrlehrern brachten es die Senioren auf der zweiten Runde auf bessere Zensuren, schnitten um 1,8 ab und landeten nach den Runden drei und vier je nach Intensität des Trainings bei Zensuren von 1,6 beziehungsweise 1,4 und distanzierten damit die Jungen. Wie „MJ“ bereits 2011 berichtete, verpuffte der Sicherheitsgewinn keineswegs: Nach drei beziehungsweise zwölf Monaten erbrachten weitere Testfahrten über die Referenzstrecke das nicht unbedingt erwartete Ergebnis: Die verbesserte Fahrkompetenz war bei den Senioren in beiden Gruppen weitgehend stabil geblieben.
Wer bleibt stehen?
Professor Schlag, selbst ein drahtiger Sechziger mit dem Habitus des unverändert leistungsfähigen Jungsenioren, nennt beim Seminar auch drei Punkte für den schnellsten Check, mit dem sich bei Bedarf – um es so auszudrücken – auf recht fortgeschrittene Alterungsprozesse schließen lässt. Zuerst kommt der Kreis, in den der Proband mit zwei Strichen „Viertel vor neun“ oder jeder andere beliebige Uhrzeit korrekt einzeichnen muss. Test zwei funktioniert beim gemeinsamen Gehen und fragt. Stoppt die zu beurteilende Person, sobald ein Gespräch beginnt? Und drittens, ganz simpel: Ein schlaffer Händedruck lässt auf eine insgesamt reduzierte Leistungsfähigkeit schließen.
Gibt es deutliche Defizite, fallen Sie der betroffenen Person in der Regel nicht auf; das Umfeld ist gefordert. Älteres Personal aus der Fahrerkabine zu bannen, kommt allerdings nicht immer einem Zuwachs an Sicherheit gleich. Schlag weiß von einer Städtischen Feuerwehr, die das Personal auf den Einsatzfahrzeugen rotieren ließ. Ältere wurden auf die Beifahrerplätze versetzt, stattdessen fuhren junge Männer um die 25. Der Effekt: Das Sicherheitsniveau stieg nicht, sondern es sank.
Erich Kupfer
Viel erreicht, viel zu tun
Das DVR-Presseseminar zum Thema „Ein Leben lang für den Straßenverkehr lernen“ in Essen benannte Neuerungen in der Fahrzeugtechnik, Verbesserungen bei der Infrastruktur und den notwendigen Gesetzen und Verordnungen als Fortschritt für die Sicherheit. Es stellte gleichwohl Bedarf für weiteres Engagement fest, damit Menschen im Straßenverkehr nicht zu Schaden kommen. Die dabei zu Prozessen der Einsicht und des Lernens aufgeworfenen Fragen lauteten über die zum Lernen im fortgeschrittenen Alter hinaus unter anderem: Was lernen Kinder in welchem Alter? Kann man „Raser“ schon in jugendlichen Jahren identifizieren und ihr späteres Verhalten positiv beeinflussen? Wann sind Menschen in der Lage, selbstständig motorisiert zu fahren? Wie qualifiziert sollten Personen sein, die das sichere Fahren lehren wollen? Welche Möglichkeiten und Grenzen hat die Qualifikation der Berufskraftfahrer?
https://www.dvr.de/presse/seminare/2017-ein-leben-lang-lernen