Das Sorgenkind der Verkehrssicherheit ist die Landstraße. Obwohl sich dort viel seltener ein Unfall ereignet als innerorts, merkt Dekra-Unfallforscherin Stefanie Ritter an, sind die Folgen „weitaus dramatischer“: 60 Prozent aller im Straßenverkehr Getöteten verunglücken auf einer Außerortsstraße. Daran hat auch der weniger gewordene Verkehr während der Coronazeit nichts geändert. Besonders schlimm sieht es beim motorisierten Verkehr aus. Mehr als zwei von drei tödlich verletzten Autoinsassen und Motorradfahrern verunglücken auf einer Landstraße.
„Die Gefahren auf Landstraßen sind seit Jahren bekannt“, ärgert sich Achmed Leser vom TÜV Thüringen: Zu hohe Geschwindigkeit und zu geringer Sicherheitsabstand, gefährliche Überholmanöver und falsches Abbiegen, plötzlicher Wildwechsel und langsam vor sich hin zuckelnde Traktoren: Das sind die wichtigsten Risikofaktoren.
Unfallforscher betonen immer wieder, dass die Auto- und Motorradfahrer aufpassen sollen: nicht zu schnell fahren, Abstand halten, waghalsige Überholmanöver sein lassen. Denn bei schneller Fahrt verschätzt man sich leicht mit Abständen, und es wird oft vergessen, dass hinter der nächsten Kurve oder Kuppe urplötzlich ein Fahrzeug entgegenrasen kann.
Zu einer vorausschauenden Fahrweise gehört auch die volle Konzentration auf das Verkehrsgeschehen. „Wer zwischendurch aufs Smartphone schaut, kann auf einen einbiegenden Traktor oder Radfahrer unter Umständen nicht rechtzeitig reagieren“, warnt Ritter.
Die Sicherheitsorganisationen nehmen verstärkt die Infrastruktur ins Visier. Sie kritisieren, dass die Fahrbahnen zu schmal sind, die Strecken unübersichtlich verlaufen, und es zu viele Kreuzungen gibt. Vor allem die an sich schön anzusehenden Alleen sind den Experten ein Dorn im Auge. Kommt man dort von der Fahrbahn ab, etwa weil dem Gegenverkehr ausgewichen werden musste, sind die Folgen „fatal“, weiß Stefanie Ritter. Die Kollision mit einem Baum gehöre wegen der hohen Aufprallenergie auf eine kleine Fläche zu den schwersten Verkehrsunfällen überhaupt.
Der ADAC spricht sich für eine Aufwertung der „gebauten Sicherheit“ aus. Er meint damit beispielsweise hindernisfreie Seitenräume zum Ausrollen beim Abkommen von der Fahrbahn oder den verstärkten Einsatz von Leitplanken, am besten mit Schutzvorrichtung für gestürzte Motorradfahrer, damit die Verletzungen nicht so schwerwiegend sind.
Einen ganz neuen Aspekt bringt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat in die Diskussion um Landstraßensicherheit ein. Der DVR hält es für „zwingend“ erforderlich, dass auseichend viele Experten bei den lokalen Behörden angestellt werden, die in der Lage sind zu entscheiden, wo und wie sich Gefahrenstellen entschärfen lassen.
Nichts Genaues weiß man nicht
Auch der verstärkte Einsatz moderner Assistenzsysteme könnte hilfreich sein. So sieht es zumindest Matthias Schubert, Vizepräsident für Mobilität des TÜV Rheinland. Er setzt seine Hoffnung auf elektronische Helferlein wie Spurhalter, Notbremssystem und intelligente Geschwindigkeitsassistenten. Sie gehören zu einer Reihe technologischer Systeme, die ab Juli 2022 zum Pflichtprogramm für Neufahrzeuge in der EU gehören. Schubert dämpft jedoch die Erwartungen. Derzeit gebe es keine Garantie, dass die Systeme auch wirklich funktionierten, hebt er hervor. Verschleiß könne die sensorgestützten Systeme genauso beeinträchtigen wie ein kleiner Rempler oder eine Reparatur. Wird zum Beispiel die Windschutzscheibe ausgewechselt, muss die dahinter angebrachte Kamera für das Assistenzsystem neu ausgerichtet werden. Andernfalls kann die Folge sein, dass das Gerät seine Funktion nicht mehr richtig erfüllt.
Der TÜV Rheinland fordert daher, dass die Assistenzsysteme in die technische Prüfung bei der regelmäßigen Hauptuntersuchung einbezogen werden. Doch dagegen sträuben sich die Autohersteller. Sie möchten sich nicht in die Karten gucken lassen und die Geheimnisse ihrer Software sowie der Fahrzeugsysteme gewahrt wissen. Der Konflikt schwelt schon eine längere Zeit. Wahrscheinlich müsste Berlin entscheiden, doch von dort hört man offiziell bislang nichts.
Ein weiterer Ansatzpunkt zur Verbesserung der Situation auf den Landstraßen ergibt sich aus der hohen Verkehrsdichte. Viele Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit auf engem Raum lassen das Unfallrisiko ansteigen und bedeuten für die Verkehrsteilnehmer zusätzlichen Stress. Vernünftige Alternativen, die den Bedarf an Mobilität decken und gleichzeitig für Entspannung sorgen, sind gefragt.
Immer wieder sorgen Lastwagen auf kurvenreichen Landstraßen für Nervosität bei den anderen Autofahrern, weil sie die Sicht versperren und lange „Warteschlangen“ bis hin zu Staus verursachen. Ungeduldige oder eilige Zeitgenossen verleitet das zu gefährlichen Fahrmanövern. Auch hier sollte über kluge Lösungen nachgedacht werden. So schlägt der ADAC einen dritten Fahrstreifen auf besonders belasteten Landstraßen vor, damit Autofahrer keine waghalsigen Überholmanöver durchführen.
Es zeigt sich: Die Sicherheitsprobleme auf Landstraßen sind schon sehr lange bekannt. Wissenschaft und Sicherheitsorganisationen haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein großes und vielfältiges Bündel an anwendbaren Maßnahmen entwickelt. Nun ist endlich die Politik am Zug.
Kristian Glaser (kb)
Titel: Malerisch, aber gefährlich, Allee auf Rügen, Foto: Pixabay/Erich Westendarp