Zum Ende der Legislatur beabsichtigt die Bundesregierung, die Verkehrssicherheit politisch aufzuwerten und durch die Bündelung verschiedener Maßnahmen zu verbessern. Am 2. Juni beschloss das Kabinett das „Verkehrssicherheitsprogramm 2021 bis 2030“, das von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) vorgelegt wurde. Es soll den Beitrag des Bundes zum „Pakt für Verkehrssicherheit“ konkretisieren. Der Pakt wurde nach zweijähriger Diskussion Anfang Mai zwischen Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschaft, Wissenschaft und Sicherheitsorganisationen vereinbart. Er umfasst insgesamt zwölf unterschiedliche Handlungsfelder, die erstmals und unter der Federführung der Regierung das gesamte Spektrum der Verkehrssicherheitsarbeit zusammenführen.
Als Hintergrund für die intensivierten Aktivitäten muss das Scheitern der offiziellen Politik gelten. Die Bundesregierung verfehlte deutlich ihr im Rahmen des Programms „Vision Zero“ (null Verkehrstote) gestecktes Ziel, die Zahl der tödlich Verunglückten zwischen 2011 und 2020 um 40 Prozent zu senken. Am Ende betrug der Rückgang nur 24 Prozent – obwohl sich der Corona-Lockdown 2020 sogar noch positiv auf die Unfallsituation auswirkte. Immerhin wurden mit 2.719 Getöteten 2020 ein historischer Tiefstand seit Beginn der statistischen Erhebung vor sechzig Jahren erreicht. Dennoch musste Andreas Scheuer einräumen, dass die Verbesserung der Verkehrssicherheit an Geschwindigkeit verloren hat.
Das Versäumte will die Regierung mit dem nun beschlossenen Verkehrssicherheitsprogramm nachholen und somit erreichen, dass die Zahl der bei einem Verkehrsunfall Getöteten bis 2030 um 40 Prozent und die der Schwerverletzten deutlich gesenkt werden. Damit wolle man „der ‚Vision Zero’ wieder ein Stück näherkommen“, erklärte Scheuer bei der Vorstellung des Programms. Er halte jeden tödlichen Unfall bereits jetzt „fast immer“ für vermeidbar. Für die Bundesregierung, so Scheuer weiter, habe die Verkehrssicherheit „oberste Priorität“. Sie solle „neuen Schwung“ bekommen.
Scheuer setzt in erster Linie auf technische Innovationen wie das automatisierte und vernetzte Fahren. Die Systeme sollen verstärkt dazu beitragen, gefährliche Verkehrssituationen rechtzeitig zu verhindern. Ferner soll die Unfallerhebung weiterentwickelt werden, um beispielsweise das Phänomen der Alleinunfälle von Radfahrern zu ergründen. Die Straßeninfrastruktur soll verbessert werden, etwa durch „Verkehrsschautools“, mit denen sich der Verkehrszeichenbestand kontrollieren lässt. Nicht zuletzt soll der Verkehr entflochten werden, beispielsweise durch gesonderte Radwege. Alle Vorhaben will man regelmäßig überprüfen und wo nötig korrigieren.
Auf seiner politischen Habenseite möchte Verkehrsminister Scheuer die Novelle der Straßenverkehrsordnung zum Schutz von Fußgängern und Radfahrern verbucht sehen und die vor zwei Jahren gestartete „Aktion Abbiegeassistent“ gegen Lkw-Unfälle in der Stadt. Zu seiner positiven Bilanz zählt der CSU-Politiker auch die Bereitstellung von „Rekordmitteln“ in Höhe von 1,5 Milliarden Euro für sichere Radwege und die Erhöhung der Ausgaben für Unfallprävention um ein Viertel auf jetzt 15,4 Millionen Euro.
In ersten Stellungnahmen wird das Verkehrssicherheitsprogramm bis 2030 durchweg begrüßt. Es wird aber auch Skepsis geäußert. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) und die Deutsche Verkehrswacht befürworten in jeweiligen Erklärungen die Einbeziehung verschiedener Akteure sowie die thematische Breite und die Konkretisierung der Vorhaben. Über die bloßen Ankündigungen von Minister Scheuer hinaus erwarten beide Organisationen tatsächliche und konsequente Schritte zur Umsetzung.
Konsquente Umsetzung angemahnt
DVR-Präsident Walter Eichendorf hebt die Absicht des Bundes hervor, eine Fußverkehrsstrategie zu entwickeln. Dadurch werde eine wichtige Gruppe ungeschützter Verkehrsteilnehmer in den Fokus gerückt. Kein Verständnis hat Eichendorf, dass das Bußgeld für Raser nicht erhöht wird. Verkehrwacht-Präsident Kurt Bodewig streicht die geplante Aufwertung der Verkehrserziehung hervor. Das sei insbesondere für ein rücksichtsvolles Miteinander wichtig.
Der ADAC regt an, das Augenmerk auf die Landstraßen zu richten. Dort ereigneten sich knapp 60 Prozent aller tödlichen Unfälle. Sogar von Seiten der Umweltverbände äußert man sich zur Verkehrssicherheit. Der BUND spricht sich etwa dafür aus, in der Stadt mehr Platz für das Fahrrad zu schaffen.
Aus Sicht des TÜV-Verbands (VdTÜV) muss das Verkehrssicherheitsprogramm Gesetzescharakter erhalten, um seine Verbindlichkeit zu erhöhen und um der Stagnation beim Rückgang der Unfallzahlen wirksam zu begegnen. Auch die Vorhaben zur Infrastruktur reichen den TÜV-Experten nicht aus. Sie halten den Bau „fehlerverzeihender“ und „selbsterklärender“ Straßen für unumgänglich. Der VdTÜV weist darauf hin, dass im Zuge der Digitalisierung des Automobils Software-Aktualisierungen im Betrieb auf ihre technische Sicherheit überwacht werden müssen. Es müsse gewährleistet werden, dass Algorithmen und automatisierte Systeme über die gesamte Lebensdauer ein Höchstmaß an Sicherheit erfüllen.
Die schwarz-rote Bundesregierung wird angesichts der in wenigen Monaten endenden Amtszeit so gut wie keine der jetzt beschlossenen Maßnahmen zur Hebung der Verkehrssicherheit verwirklichen können. Klar ist jedoch: Ein neuer Schritt ist getan. Die Verkehrssicherheit benötigt mehr Aufmerksamkeit. Die nächste Bundesregierung wird sich intensiver damit beschäftigen müssen.
Olaf Walther/Kristian Glaser (kb)
Grafik: BMVI
Hier gibt es die Broschüre zum Verkehrssicherheitsprogramm 2021 bis 2030