//Müllers Kolumne: Amokfahrt und kein Ende

Müllers Kolumne: Amokfahrt und kein Ende

Spätestens seit der neuerlichen Amokfahrt in Mannheim stellt sich aus Bürgersicht die Frage, was der Staat konkret unternehmen möchte, um seine Bürgerinnen und Bürger vor derartigen Anschlägen effektiv zu schützen. Derzeit fehlt noch ein schlüssiges Konzept, und zwar auch deswegen, weil es keine zentrale Aufarbeitung dieser Straftaten gibt. Geschichte scheint sich in ähnlicher Form doch zu wiederholen; denn auch im Falle der 11 Morde des früheren Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gab es vor dem Abschluss dieser Mordserie keine Institution, unter deren Leitung die allenthalben in Bund und Ländern gesammelten Informationen zentral zusammengeführt und gemeinsam ausgewertet wurden. Das darf so nicht noch einmal passieren.

Begriffsklärung der „Amokfahrt“

Eine Amokfahrt ist durch verschiedene, einheitlich zu beurteilende Kriterien gekennzeichnet. Sie liegt vor, wenn ein gewaltbereiter oder bereits gewalttätiger Fahrer mit dem von ihm als Waffe genutzten Kraftfahrzeug wahllos oder gezielt eine nicht bestimmbare Anzahl von Fußgängern bereits verletzt oder getötet hat, eine solche Fahrt bereits beendet ist, noch andauert oder wenn eine solche Fahrt unmittelbar zu erwarten ist.
Wenn eine solche Amokfahrt im Zusammenhang mit terroristischen oder extremen politischen Zielen eines Täters (durch Frauen begangene Amokfahrten sind dem Verfasser nicht bekannt) steht, spricht man begrifflich von einem Terroranschlag.

Bearbeitung der Straftaten

Die begangenen Straftaten werden in den betroffenen Bundesländern und Dienststellen der Polizei und Staatsanwaltschaften nach den Regeln der Strafprozessordnung durch die zuständigen Polizeibeamten und Staatsanwälte ermittelt. Danach erfolgen regelmäßig Anklage und Hauptverhandlung vor einem ordentlichen Strafgericht, zumeist vor einer Strafkammer eines Landgerichts, weil das an einem Amtsgericht höchstmögliche Strafmaß von 4 Jahren durch derartige Taten zumeist überschritten werden dürfte. Nicht selten folgt auf ein Strafurteil eine Revision, das heißt eine Überprüfung der richtigen Rechtsanwendung, zum Bundesgerichtshof, der in den meisten Fällen die Urteile der ersten Strafinstanz bestätigt, weil diese rechtsfehlerfrei zustande gekommen sind.
Befindet sich der Täter, bedingt durch eine psychische Erkrankung, in einem schweren psychischen Ausnahmezustand, handelt er entweder im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder einer verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) und kann wegen seiner Tat nicht oder gegebenenfalls milder bestraft werden. In beiden genannten Fällen prüft das Strafgericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB).
Alle beteiligten Bundesländer arbeiten im Föderalismus, der keine zentrale Polizei und keine zentrale Strafjustiz der Bundesländer kennt, für sich und behalten auch die ermittelten Informationen zumeist bei sich. Erst nach rechtskräftig abgeurteilten Verfahren werden die Verkehrsstraftaten an das im Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) geführte Fahreignungsregister (FAER) und Straftaten, die keine Verkehrsstraftaten sind, an das Bundeszentralregister (BZR) gemeldet und dort bis zum Ende der jeweiligen Speicherfrist gespeichert. Für die Zukunft würden über die betreffenden Täter aus den Registern Auskünfte erteilt werden können. Da diese sich aber oft in Strafhaft oder in psychiatrischen Kliniken befinden, fragt keine Behörde ihre Daten ab. Falls allerdings im Zuge eines Strafverfahrens eine Fahrerlaubnis entzogen worden war und ein haftentlassener Straftäter erneut eine Fahrerlaubnis erwerben möchte, würde die Fahrerlaubnisbehörde beide Register auf Einträge hin überprüfen und gegebenenfalls nachfolgend eine medizinisch-psychologische Untersuchung anordnen, um die Fahreignung zum Führen von Kraftfahrzeugen medizinisch und verkehrspsychologisch auf Kosten der Antragsteller überprüfen zu lassen.

Task-Force „Amokfahrten“

Die mit den Amokfahrten der letzten Monate und Jahre befassten Landespolizeien und Staatsanwaltschaften in Berlin („Anis Amri“, 2016), NRW (Münster, 2018), Hessen (Volkmarsen, 2020), Rheinland-Pfalz (Trier, 2020), Sachsen-Anhalt (Magdeburg, 2024), Baden-Württemberg (Grünsfeld, 2024), Bayern (München, 2025) und erneut Baden-Württemberg (Mannheim, 2025) ermittelten die Straftaten jeweils nur in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich. Auch im benachbarten Ausland fanden Amokfahrten statt wie etwa in der Schweiz (Basel, 2012), in Österreich (Graz, 2015) und in Italien (Santo Stefano di Cadore, 2023), wo nach denselben juristischen Maßstäben wie in Deutschland ermittelt und geurteilt wird.
Bislang wurden die wertvollen Erkenntnisse aus den Ermittlungen der verschiedenen Strafverfahren über den jeweils sichtbaren Modus Operandi (die Art und Weise der Tatbegehung) der Amokfahrer und deren Täterprofile nirgendwo zentral zusammengefasst und ausgewertet.
Es wird Zeit, dass eine zentrale Task-Force „Amokfahrten“ ins Leben gerufen wird, in der die vor Ort gesammelten Informationen über Täter und Taten zusammengefasst und ausgewertet werden können, damit eventuell vorhandene Gemeinsamkeiten erkannt werden können und ein mögliches Täterprofil erstellt werden kann. Vor diesem neuen Erkenntnishintergrund besteht vielleicht die Möglichkeit, für die Zukunft besser als bisher vorbeugen und mögliche Taten besser vorausberechnen sowie geeignete Schutzmaßnahmen besser treffen zu können.
Eine solche Task-Force könnte zum Beispiel von einem Bundesministerium (Innen, Verkehr, Justiz) einer obersten Bundesbehörde (KBA, BKA) oder einer Bundesarbeitsgemeinschaft (Innenministerkonferenz, Verkehrsministerkonferenz, Justizministerkonferenz) mit Zustimmung von Bund und Ländern gebildet werden und an einem zentralen Ort (Berlin) ihre Arbeit aufnehmen. Ihre Ausstattung würde personell aus einigen Experten (zu Beispiel aus Polizei, Strafjustiz, Psychologen, Psychiater, Verfassungsschutz) bestehen, die dezentral arbeiten könnten und lediglich einen Zugang zu allen erforderlichen Akten und Dateien haben müssten. Nach einer Arbeitszeit von circa einem Jahr könnten die Ergebnisse dem betreffenden Auftraggeber in Form eines Berichts vorgestellt und danach von allen Bundesländern als aktuelle Erkenntnisgrundlage genutzt werden. Und wo ist das Problem?

Amokfahrten und Fahreignung

In zahlreichen Fällen sind Amokfahrer der Polizei nicht unbekannt oder auch bereits anderen Behörden gegenüber auffällig geworden. Verfassungswidriges Verhalten ist zum Beispiel bereits von Polizei, Ordnungsämtern und Verfassungsschutz bearbeitet, ordnungswidriges Verhalten ist beispielsweise bereits von Ordnungsämtern, Bußgeldbehörden und Bußgeldrichtern behandelt worden.
In keinem der oben angeführten Fälle von Amokfahrten ist es nach Kenntnis des Verfassers allerdings zu einer behördlichen Überprüfung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen gekommen, weil die beteiligten Polizeibeamten und Volljuristen aus der Strafjustiz entweder ihren Meldepflichten nicht nachgekommen sind oder die örtlich zuständigen Fahrerlaubnisbehörden nicht tätig geworden sind. Eine solche behördliche Überprüfung hätte zumindest die Chance, einem möglichen Täter zu zeigen, dass er sich „auf dem Radarschirm“ der Sicherheitsbehörden befindet und sein Tun möglicherweise nicht folgenlos bleibt. Zudem wären zwangsweise Schritte möglich wie zum Beispiel Vorladungen, Anhörungen, Gerichtsverfahren im Bereich der vorbeugenden Gefahrenabwehr. Zudem könnten Quermitteilungen von Behörde zu Behörde, auch über Ländergrenzen und Staatsgrenzen hinweg erfolgen, die auf mögliche Täter abschreckend wirken könnten oder diese in der Folge sogar – in justiziellen Verfahren – wenigstens zeitweise aus dem Verkehr ziehen können (zum Biespiel durch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus).
Polizeibeamte müssen nach § 2 Abs. 12 StVG Informationen über Tatsachen, die auf Fahreignungsmängel einer Person zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen lassen, den Fahrerlaubnisbehörden zwingend mitteilen. Dazu gehören unter anderem Informationen über psychische Auffälligkeiten oder Gewaltstraftaten, und zwar auch solche, die gar nichts mit dem Straßenverkehr zu tun haben. Die gleiche gesetzlich verbindliche Meldepflicht über relevante Tatsachen an die Fahrerlaubnisbehörde des Wohnsitzes des Straftäters trifft Staatsanwälte und Strafrichter nach Nr. 45 MiStra (Mitteilungen in Strafsachen) in Verbindung mit § 13 Absatz 1 Nummer 5, Absatz 2, § 17 Nummer 1, 3 EGGVG (Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz), und zwar auch über sonstige Tatsachen, die in einem Strafverfahren – gleichgültig, gegen wen es sich richtet – bekannt werden, wenn ihre Kenntnis für die Beurteilung erforderlich ist, ob die Inhaberin oder der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen von Fahrzeugen ungeeignet ist.
Die Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen, Gewaltstraftaten und Fahreignung ergeben sich direkt aus der Vorschrift des § 11 Abs. 2 und 3 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV).
Leider kennen deutschlandweit sehr viele Polizeibeamte und Strafjuristen die erforderlichen Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen, Gewaltstraftaten und Fahreignung sowie ihre daraus resultierenden gesetzlichen Meldepflichten nicht und kommen diesen daher auch nicht nach. Das gut durchdachte Schutzsystem läuft also größtenteils leer und notwendige medizinisch-psychologische Begutachtungen psychisch kranker oder latent aggressiver Fahrerlaubnisinhaber unterbleiben – zum großen Nachteil der Verkehrssicherheit von uns allen.

Fazit

Amokfahrten sind keine Naturereignisse, denen man hilflos ausgeliefert ist. Sie haben Ursachen und sie haben Täter, die nach denselben Mustern ihre Straftaten begehen. Es wird Zeit, die in zahlreichen Behörden vorhandenen Informationen zentral zusammenzuführen und auszuwerten, damit bessere Strategien gefunden werden können, um diesen gemeingefährlichen Straftaten besser oder überhaupt vorzubeugen. Dies ist kein Erfolgsrezept, wäre aber ein Anfang, diese Taten systematisch aufzuarbeiten.

Weiterführende Links

Abschlussbericht des Zweiten Untersuchungsausschusses (NSU) des Deutschen Bundestages
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Abschlussbericht des Deutschen Bundestages zum Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz
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§ 11 Fahrerlaubnis-Verordnung – Eignung
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§ 63 StGB – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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Aufsatz über Pflichtmitteilungen von Polizei und Justiz an Fahrerlaubnisbehörden
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik

Foto: Magnus/Pixabay