//Mobilitätsforscher Prof. Dr. Andreas Herrmann beim Automobilclub KS e.V. „Die Krise als Chance, um uns neu zu erfinden“

Mobilitätsforscher Prof. Dr. Andreas Herrmann beim Automobilclub KS e.V. „Die Krise als Chance, um uns neu zu erfinden“

Ein Denken „out of the box“, mehr radikales statt schrittweises Handeln, einen Aufbruch sowie das Überwinden von Nischen und Leitplanken – das fordert Prof. Dr. Andreas Herrmann, Leiter des Instituts für Mobilität an der Universität St. Gallen, von der deutschen Automobilindustrie angesichts des Vorpreschens von „BYD, Nio und dem Rest“. Herrmann machte in seiner aufrüttelnden Festrede anlässlich der Verleihung des 43. KS Energie- und Umweltpreises in München gleichwohl den deutschen Akteuren Mut, denn der Vormarsch chinesischer Autofirmen sei noch nicht entschieden.

 Die gute Nachricht, die Prof. Andreas Herrmann, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Leiter des Instituts für Mobilität an der Universität St. Gallen, zur 43. Verleihung des KS Energie- und Umweltpreises nach München mitbrachte, zuerst: „Der Vormarsch chinesischer Autofirmen ist beeindruckend und beängstigend zugleich, aber der Home Run der Chinesen ist noch nicht ausgemacht.“ So machten die derzeit 150 chinesischen Autobauer nur sehr wenig Gewinn, eine Fortführung von Chinas Subventionen in Höhe von 230 Milliarden Dollar sei fraglich und auch der Aufbau eines Händlernetzes hierzulande sei für chinesische Autobauer offenbar eine große Herausforderung. Dennoch ist laut Herrmann Fakt: Der Eintritt chinesischer Unternehmen in den deutschen Automobilmarkt ist eine existentielle Herausforderung für die etablierten Spieler – „viel heftiger, zielstrebiger und nachhaltiger als alles, was wir bislang erlebt haben.“

Sechs Argumente für Chinas Autopower

Der Leiter des Instituts für Mobilität an der Universität St. Gallen untermauerte seine These anlässlich der Preisverleihung des Automobilclub KS e. V. an Siemens und Continental Anfang Juli in der Alten Kongresshalle in München mit den nachfolgenden sechs Argumenten:

Erstens: „Der chinesische Masterplan“. Darin rief die chinesische Regierung bereits 2005 das Ziel aus, China zur führenden Automobilnation zu machen. Da beim Verbrenner die deutschen Hersteller kaum zu schlagen waren, fokussierten sich Chinas Autobauer auf die Elektromobilität. Hier jedoch treten die deutschen Autohersteller gegen einen Staat mit einer industriepolitischen Idee an, die in Europa allenfalls in Form von Feuerwehreinsätzen vorhanden sei, so Herrmann.

Zweitens: „Das System ‚Teile und herrsche‘“. So bestehe das Grundprinzip der Fertigung deutscher und europäische Hersteller im Wesentlichen darin, das Auto zu zerlegen und die einzelnen Komponenten an Zulieferer auszulagern. Die Folge: In einem VW Golf befänden sich 150 Softwaremodule, sprich 150 Programmiersprachen und 150 Zulieferer. In Summe 100 Millionen Programmierzeilen. Tesla, BYD und andere hätten eine einzige Softwareplattform, was es erlaube, Fahrzeuge schneller und günstiger zu erneuern, sagt Herrmann.

Drittens: „Der neue Fahrzeugkern“. Die Bedeutung einer eigenen Batteriefertigung und die Fähigkeit, Steuerungssoftware selbst zu programmieren, sprich 40 Prozent der Wertschöpfung eines Fahrzeugs, hat Europa nach Überzeugung Herrmanns falsch eingeschätzt.

Viertens: „Software funktioniert anders“. Hier gelte „The winner takes it all“, sprich, es gibt keinen Platz für die zweitbeste Lösung, so Herrmann. In der deutschen Autoindustrie arbeite bis dato allerdings noch jeder Hersteller an seiner eigenen Softwareapplikation, während in China, wo Techfirmen wie Tencent und Baidu, die Software für Automobilhersteller entwickelten, sogar an ihnen beteiligt seien. Damit lassen sich Kosten reduzieren und die Entwicklungszeit beschleunigen, verdeutlicht Herrmann.

Fünftens: „Markenstärke wird zu Markenschwäche“. Bis dato besaßen deutsche Automarken für chinesische Kunden einen enormen Stellenwert. Jetzt komme die Generation der Kinder, die ihre eigene Geschichte mir ihren eigenen Marken schreiben wolle. Und dazu brauche sie die aufstrebenden Automarken aus dem eigenen Land. Herrmann: „Diese Generation will Teil dieser neuen Geschichte sein.“

Sechstens: „Große Ideen verheddern sich im Klein-Klein“. Es gibt in Deutschland keinen Masterplan, keine Idee für die Transformation der Mobilität, stattdessen viel bürokratisches Klein-Klein, sagt Herrmann. Während die EU zwischen 2014 und 2023 rund 80 Projekte zum autonomen Fahren mit rund 800 Millionen Euro unterstützt habe, wurden in China zwischen 2016 und 2019 etwa 16 Milliarden Euro für fünf Projekte ausgegeben.

Mehr radikales statt inkrementelles Fahrzeugdesign

Für Herrmann braucht es jetzt einen Aufbruch der deutschen Automobilindustrie, das Überwinden von Nischen und Leitplanken. Mehr radikales statt schrittweises Denken und Handeln. Für Herrmann die vielleicht allergrößte Herausforderung: „Jenes Wissen, jene Fähigkeiten, die diese Unternehmen so weit gebracht haben, zumindest zum Teil aufzugeben, um sich völlig Neuem zuwenden zu können.“

Radikales „Fahrzeugdesign“ gefordert

Für den notwendigen Wandel in der langen Frist nennt Prof. Herrmann folgende Faktoren:

– radikales Fahrzeugdesign statt schrittweise Weiterentwicklungen

– Entertainment im Fahrzeug statt viele komplizierte Funktionalitäten

– Rasches Facelift inklusive Software-Updates statt endloser Entwicklungszyklen

– Neue (Sub-)Marken statt nicht mehr überschaubare Varianten- und Modellvielfalt

– Vollausstattung der Fahrzeuge statt nicht mehr handhabbarer Herstellungskomplexität

– Technologie, Ökologie und Zirkularität als den neuen Luxus im Fahrzeug verstehen

Herrmann empfiehlt den deutschen Automobilherstellern, auch einmal „out of the box“ zu denken – weg vom Hersteller hin zum Mobilitätsdienstleister. Dabei zieht er zum Vergleich Tech-Firmen wie Xiaomi oder Huawei heran, die sich als Automobilhersteller profilierten, die Fahrzeuge jedoch bei BAIC fertigen und letztlich „nur“ die Intelligenz lieferten, die allerdings die eigentliche Wertschöpfung darstelle. „Das mag sich anfühlen wie Groschen sammeln – ich kenne viele Einwände. Aber nach 140 Jahren darf sich doch das Geschäftsmodell auch mal ändern. Sehen wir diese Krise daher als Chance, uns neu zu erfinden. Das hat bislang noch selten geschadet“, resümiert Prof. Andreas Herrmann in seiner viel beachteten Rede.

Autor: Isabella Finsterwalder; Abbildung: Automobilclub KS e.V.

Aufmacherbild: Sieht die derzeitige Krise als Chance für die deutsche Automobilindustrie, sich neu zu erfinden: Prof. Andreas Herrmann von der Universität St. Gallen.