In das Innere einer Autokarosserie schauen, wie sie sich bei einer Kollision verformt – dieser Traum von Fahrzeugentwicklern und Sicherheitsingenieuren ist das allererste Mal überhaupt wahr geworden: in Stuttgart-Sindelfingen, wo das Technologiezentrum Fahrzeugsicherheit von Mercedes-Benz steht. Dort wurde kürzlich bei einem Test eine Limousine der C-Klasse mit 60 km/h gecrasht, und genau in dem Augenblick des Aufpralls feuerte ein Röntgengerät mit einem neuartig angewandten Höchstgeschwindigkeitsverfahren Strahlen auf das Premiumauto, um es zu durchleuchten. Im Bruchteil einer Sekunde entstanden zahlreiche Bilder in hochauflösender Qualität, die zusammengesetzt ein Video ergeben, das „bisher unsichtbare Verformungen und ihre exakten Abläufe transparent“ macht, so Mercedes.
Und nicht nur das. Auch die inneren Verformungen der an Bord des Crashautos befindlichen Unfallpuppen konnten ans Tageslicht befördert werden. Das hilft zu verstehen, wie die inneren Organe eines Autoinsassen bei einem Unfall beeinträchtigt werden und wie man sie künftig besser schützen kann. „Der Röntgencrash von Mercedes-Benz setzt einen Meilenstein bei den Entwicklungstools der Zukunft. Er kann mit dem direkten Blick ins verborgene Innere helfen, wichtige Rückschlüsse für die weitere Verbesserung der Fahrzeugsicherheit zu ziehen“, sagte Mercedes-Vorstandsmitglied Markus Schäfer.
Seit Jahren kooperieren Mercedes’ Sicherheitsexperten mit dem Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik. Zusammen setzten sie erstmals einen Linearbeschleuniger mit 1-kHz-Technologie als Strahlenquelle für die Durchleuchtung bei der Unfallsimulation ein. Das Gerät sei weitaus leistungsfähiger als die bislang eingesetzten Röntgenblitze, erläutert der Autohersteller: „Die Photonenenergie des Linearbeschleunigers beträgt bis zu neun Megaelektronenvolt. Damit lassen sich alle im Fahrzeugbau üblichen Materialien durchleuchten.“
Der Crashtest und die Röntgenaufnahmen müssen exakt aufeinander abgestimmt sein und dürfen keinen Wimpernschlag voneinander abweichen, denn die Dauer des Röntgenpulses beträgt nur wenige Mikrosekunden. „Das erlaubt es“, erklärt das Unternehmen, „Deformationsprozesse im Crashtest ohne Bewegungsunschärfe aufzuzeichnen“. Der kontinuierliche Strom der Röntgenpulse ermögliche bis zu 1.000 Bilder pro Sekunde zu machen. „Das sind etwa 1.000 Mal so viele wie bei herkömmlichen Röntgenverfahren.“
Die Strahlen werden von oben auf die Crash-Szenerie gerichtet und von einem unter dem Fahrzeug angebrachten Detektor als Bildempfänger aufgefangen. Auf dem Weg dorthin werden die Strahlen von der Fahrzeug- und Dummystruktur absorbiert, und diese Beeinflussung ergibt am Ende das Bild. Wie bei der medizinischen Untersuchung durch einen Radiologen oder bei der Gepäckkontrolle am Flughafen.
Die eigentliche Aufnahmezeit dauert lediglich eine zehntel Sekunde. Währenddessen werden etwas einhundert Standbilder „geschossen“, die zum „hochspannenden Video“ (Mercedes) zusammengefügt werden. Damit erreicht der Stuttgarter Autohersteller einen vorläufigen Höhepunkt bei seiner 1959 begonnenen Sicherheitsforschung mit Crashtests, von denen in Sindelfingen jährlich ungefähr 900 durchgeführt werden.
Übrigens ist die Arbeit mit solch starker Strahlung nicht ohne. Dass alle beteiligten Mitarbeiter ein Dosimeter tragen müssen, liegt auf der Hand. Aus Sicherheitsgründen wurde aber auch eine 40 Zentimeter dicke Betonwand rings um das Gebäude errichtet und eine 45 Tonnen schwere Strahlenschutztüre eingebaut.
Kristian Glaser (kb)
Foto: Mercedes-Benz