//Müllers Kolumne: Bauern versus Klimakleber

Müllers Kolumne: Bauern versus Klimakleber

Im letzten Jahr nahmen zahlreiche Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts an bundesweiten Protestaktionen in Form von Straßenblockaden, motiviert von der Vereinigung „Letzte Generation“ teil. Das Ziel dieser Personen, die die politischen Überzeugungen der „Letzten Generation“ teilen, ist es, den Straßenverkehr öffentlichkeitswirksam, das heißt  unter aktiver Einbeziehung der Medien, für einige Zeit zu blockieren, um auf diesem Weg politische Aufmerksamkeit für die Belange des Umwelt- und insbesondere des Klimaschutzes zu erzeugen. Das politische Fernziel dieser Bewegung ist es, außerparlamentarischen politischen Druck auf die Bundesregierung auszuüben, um im Klimaschutz umzusteuern und diesem Thema den ersten Platz in der bundespolitischen Diskussion einzuräumen.
Aktuell befinden sich viele Bauern in einem Kampf unter anderem um die Erhaltung ihrer steuerlichen Privilegien, die sie für Dieselkraftstoff und die Steuerbefreiung Ihrer land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeuge seit Jahrzehnten vom Staat erhalten.
Da diese Aktionen von allen Demonstranten sämtlich im fließenden öffentlichen Straßenverkehr stattfinden und andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere Fahrzeugführer direkt von den Blockadeaktionen betroffen sind, stellt sich zunächst die Frage der Strafbarkeit dieses Verhaltens und später die wesentlich brisantere Frage, ob die politischen Ziele der potenziellen Straftäter im Rahmen einer strafrechtlichen Bewertung berücksichtigt werden dürfen oder sogar müssen.

Nötigung durch Straßenblockade oder nicht?

Bei einer Nötigung geht es inhaltlich immer um eine bewusst gewollte Beeinflussung des Willens des Opfers durch den Willen des Täters. Dieser möchte das Opfer unter seinen Willen zwingen und ihm ein bestimmtes Handeln des Täters, eine Duldung eines vom Täter erwünschten Geschehens oder eine Unterlassung eines vom Opfer beabsichtigten Handelns aufzwingen. Es ist ein perfides Manipulationsdelikt: Der Täter manipuliert sein Opfer in die von ihm erwünschte Richtung.
Ein zentrales Tatbestandsmerkmal jeder Nötigung ist das Merkmal der „Gewalt“. Zu diesem Merkmal ist durch den Bundesgerichtshof (BGH) und nachfolgend das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ entstanden, die im Folgenden näher erläutert werden soll.
Der BGH ist der Auffassung, dass auch ein geringer körperlicher Aufwand – dazu gehören das Sich-Hinsetzen oder das Sich-auf-die Fahrbahn-Begeben – den Anforderungen an den Gewaltbegriff genügen kann, wenn seine Auswirkungen den Bereich des rein Psychischen verlassen und (auch) physisch wirkend sich auf potenzielle Opfer als körperlicher Zwang darstellen (BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 – 1 StR 126/95, BGHSt 41, 182-187, Rn. 14).
Nach Auffassung des BGH benutzt ein Demonstrant bei einer Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße den ersten aufgrund von psychischem Zwang anhaltenden Fahrzeugführer (schließlich möchte er einen Demonstrationsteilnehmer nicht überfahren) und sein Fahrzeug bewusst als Werkzeug zur Errichtung eines physischen Hindernisses für die nachfolgenden Fahrzeugführer, die in der zweiten Reihe und weiteren Reihen dahinter gezwungenermaßen stehenbleiben müssen. Diese vom zuerst angehaltenen Fahrzeug ausgehende physische Sperrwirkung für die nachfolgenden Fahrzeugführer wird den Demonstranten zugerechnet. Das nennt sich juristisch „Handeln in mittelbarer Täterschaft“, das heißt ein Täter ( = sitzender Demonstrant) benutzt einen Autofahrer und dessen stehendes Auto als Mittel für seine Tat der Nötigung.

Bauern setzen sich demgegenüber nicht auf die Fahrbahn. Sie nutzen einfach ihre Traktoren und Schlepper als physische Hindernisse und bringen dadurch ebenfalls den örtlichen Verkehr zum Erliegen.
Einen deutlichen und auch juristisch spürbaren Unterschied gibt es jedoch, wenn es sich um eine bei der Versammlungsbehörde angemeldete Demonstration handelt und eine zeitweise Blockade über diesen Verwaltungsweg sogar amtlich genehmigt wird. Dann nämlich ist eine Blockade durch die mittelbar beteiligten Verkehrsteilnehmer als Mittel der demokratischen Meinungsäußerungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit (Artikel 5 und Artikel 8 Grundgesetz) hinzunehmen und es liegt keine Nötigung vor.
Nun sind aber zahlreiche Sitzdemonstrationen und Blockadeaktionen nicht behördlich angemeldet und genehmigt worden. In diesen Fällen wird der Straftatbestand der Nötigung ermittelt.

Politische Ziele als Unterscheidungsmerkmale der Rechtswidrigkeit

Für eine rechtswidrige Straftat muss es sich bei der Nötigungshandlung um eine „verwerfliche“ Tat handeln. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird durch § 240 Abs. 2 StGB gesetzlich etwas näher erklärt, indem „die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist“.
Die nach § 240 Abs. 2 StGB notwendige juristische Verwerflichkeitsprüfung ist eine rein juristische Prüfung, die nach der Tat in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren durch Volljuristen (Staatsanwälte, Strafrichter und Strafverteidiger) geprüft wird. Insofern bedarf es für eine Bestrafung der Täter im Regelfall einer positiven Feststellung der Verwerflichkeit durch das Tatgericht.
Dazu sei angemerkt, dass für das Vorliegen einer strafbaren Handlung die von Staatsanwaltschaft und Strafgericht vorzunehmende Prüfung dieser „Zweck-Mittel-Relation“ im jeweils zu entscheidenden Fall ergeben muss, dass der Einsatz des Nötigungsmittels der Gewalt (gezielte Blockade der anderen Verkehrsteilnehmer) zu dem angestrebten Zweck (öffentlich-mediale Aufmerksamkeit zu erlangen) als verwerflich anzusehen ist. In den Rahmen dieser Prüfung und in den Rahmen der Strafzumessung fließen dann erst die persönlichen und die politischen Beweggründe der Demonstrierenden ein, die oft nicht voneinander zu trennen sind. Daneben treten als Prüfungsmaßstab noch die Schutzbereiche der beteiligten Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, auf die sich „Klimakleber“ und Bauern gleichermaßen berufen.
Diese Prüfung ist im Einzelfall juristisch schwierig, was aber auf das polizeiliche Handeln keinen Einfluss haben darf; denn Polizeibeamte müssen immer rechtsstaatsgemäß verhältnismäßig handeln, natürlich auch gegenüber „Klimaklebern“ und Bauern. Politische Meinungen der Polizisten sind beim Handeln vor Ort irrelevant. Sie müssen als neutrale Staatsdiener im Sinne ihrer staatlichen Aufträge der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung funktionieren. Sie müssen Gefahren und Störungen beseitigen und dabei Beweise für strafrechtliches Handeln durch Beobachtungen und Filmaufnahmen sichern.
Sehr lesenswert und auch recht verständlich für diese Thematik ist die unter den weiterführenden Links erreichbare Entscheidung des BVerfG.

Gibt es die „bessere Nötigung“?

Diese Frage ist rein politisch-moralischer Natur und kann von jedem der Leserinnen und Leser unterschiedlich beantwortet werden. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Kolumne haben die protestierenden Bauern bereits einen politischen Teilerfolg erreicht, indem die Steuerbefreiung für ihre betrieblich genutzten Fahrzeuge erhalten bleibt, nur die Subventionierung des von den Bauern für ihre Fahrzeuge genutzten Dieselkraftstoffs ist aktuell noch umstritten.
Hinsichtlich der Demonstrationen von „Klimaklebern“ haben erste Gerichte deren politische Fernziele einer Verbesserung des Klimaschutzes bereits im Strafmaß durch geringere Geldstrafen berücksichtigt. Gegenüber Bauern wird – so hat es den Eindruck – aus diversen Gründen vielfach gar nicht erst tiefgründig strafrechtlich ermittelt. Das müssen die beteiligten Vertreter der Strafverfolgungsbehörden unter sich ausmachen und gegebenenfalls auch verantworten. Eine Recherche auf dem bekannten Rechtsportal Juris hat jedenfalls kein einziges Strafurteil gegenüber einem Bauern aufgrund einer Straßenblockade ergeben. Etwaige Strafverfahren scheinen also größtenteils bereits von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden zu sein oder ergangene erstinstanzliche Strafurteile wurden nicht veröffentlicht.

Fazit

Eine allen Demonstranten, gleich ob „Klimakleber“ oder Bauern gerecht werdende politische Beurteilung von deren Verhalten wird es in einem pluralistischen Staat wie dem unseren nicht geben können. Klar ist nur eines: Ihre Straftaten gegenüber den unschuldigen Opfern, die durch Blockadeaktionen an deren Weiterfahrt gehindert werden und durch die Verzögerungen eventuell auch finanzielle Schäden erleiden können, sind nicht gerechtfertigt und jeder betroffene Bürger darf in diesen Fällen eine Strafanzeige erstatten, die von Polizei und Staatsanwaltschaft, dem Legalitätsgrundsatz folgend, auch sachlich bearbeitet werden muss.

Weiterführende Links

§ 240 StGB
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Leitentscheidung des BGH zur Nötigung im Straßenverkehr
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Leitentscheidung des BVerfG zu den Fernzielen einer Nötigung im Straßenverkehr
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik

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