Im November kam es in Berlin zu einer denkwürdigen Sitzung des Bundesrates. Zur Abstimmung standen die Novellen zum Straßenverkehrsgesetz (StVG) und zur Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Beide Reformvorhaben wurden lange vorher diskutiert und zahlreiche Verbände gaben ihr im Ergebnis positives, negatives oder neutrales Votum ab. Die Sitzung endete mit einem Paukenschlag. Der Bundesrat lehnte durch die Mehrheit der unionsgeführten Länder die Reformvorhaben des StVG ab, sodass die von dem Gesetz inhaltlich abhängige StVO nicht einmal mehr zur Abstimmung gestellt werden konnte.
Nun dürfte der Vermittlungsausschuss zwischen den beiden Kammern unserer gesetzgebenden Gewalt und dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) angerufen werden, um eine tragbare Lösung für das politische Dilemma zu finden.
Wer gegen wen und warum?
Das BMDV wollte über den Bundestag erreichen, dass bei zukünftigen straßenverkehrsbehördlichen Anordnungen neben den beiden bisherigen Zielen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auch die neuen Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden. Die Ziele und die Vorgehensweise wurden in diesem Blog bereits im Juli ausführlich behandelt und kritisiert.
Der Bundestag hatte den vorgelegten Gesetzentwurf bereits im Oktober mehrheitlich angenommen. Damit konnte er dem Bundesrat zur Mitbestimmung vorgelegt werden. Der Bundesrat hatte seinerseits das Gesetzesvorhaben zuvor in drei Ausschüssen behandelt und zahlreiche Änderungsvorschläge eingebracht. Die Ausschüsse hatten sich für eine Zustimmung zum Reformvorhaben ausgesprochen, allerdings mit einigen bedeutenden Änderungen.
Die Vielfalt der Argumente
Das entscheidende Argument gegen die Gesetzesreform war nach Ansicht der Mehrheit des Bundesrates die fehlende Vorrangstellung der Verkehrssicherheit gegenüber den anderen vier Zielen des StVG. Dies wurde allerdings auch schon in den Ausschussempfehlungen thematisiert.
In seiner Sitzung im September hatte der Bundesrat vom Bundestag eingefordert, die Verkehrssicherheit in ihrem Stellenwert zu erhöhen, indem sie folgenden Wortlaut im StVG verankert wissen wollte:
„Beim Erlass von Rechtsverordnungen nach Satz 1 Nummer 1 ist das Ziel maßgeblich zu berücksichtigen, dass niemand durch Verkehrsunfälle sein Leben verlieren oder schwer verletzt werden soll (Vision Zero).“
Der Bundestag folgte diesem Votum nicht und nahm den Wunsch der Länder nicht in das StVG auf.
Genau diese mangelnde Kompromissbereitschaft, eine Selbstverständlichkeit wie den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, also der beiden Grundrechte aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes, plakativ auch im StVG zu verankern, kostete die Regierungskoalition nun die Zustimmung zu beiden Gesetzesvorhaben. Wäre nämlich der Bundestag der Bitte der Länder in diesem Punkt gefolgt, hätten auch die unionsgeführten Länder kein durchgreifendes Argument mehr gehabt, die gesamte Reform aus StVG und StVO de facto auf Eis zu legen.
Auch die Kommunen waren mit dem Reformvorhaben zwar nicht in Gänze zufrieden, hatten sich aber dazu durchgerungen, dieses als einen ersten Reformschritt zu sehen, um einige Freiheiten in der Verkehrsregelung dazuzugewinnen, dem dann aber weitere Schritte folgen müssten.
Zuvor hatten sich mehr als 1.000 Städte, Gemeinden und Landkreise in bemerkenswerter Weise zu einer Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden“ zusammengefunden und ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, vom Bundesgesetzgeber und dem BMDV mehr Rechte zugebilligt zu erhalten. Bereits im Juli 2021 fiel durch die Städte Aachen, Augsburg, Freiburg, Hannover, Leipzig, Münster und Ulm der organisatorische Startschuss für die Initiative, die sich gegenüber dem Bund dafür einsetzt, dass die Kommunen selbst darüber entscheiden dürfen, wann und wo welche Geschwindigkeiten angeordnet werden. Tatsächlich ist das durch die Vorschrift des § 45 StVO geschnürte verkehrsrechtliche Korsett für die Kommunen zu eng und müsste unbedingt aufgeschnürt werden, um den Anforderungen vor Ort gerecht werden zu können.
Wie soll es weitergehen?
Der Bund, also Bundestag und BMDV haben es nun in der Hand, durch Anrufen des Vermittlungsausschusses und das Eingehen auf die berechtigte Forderung der Aufnahme der Vision Zero in das StVG ihr Reformvorhaben doch noch durch den Bundesrat zu bringen. Das darf dann aber tatsächlich nur der erste Schritt sein, den Kommunen in der StVO weitere Rechte zuzubilligen, ihre Verkehrsregelung den örtlichen Bedürfnissen komplett anpassen zu können. Hier zeigt es sich, ob der Bund es den Kommunen in der vertikalen Gewaltenteilung tatsächlich zutraut, sich auch auf dem Gebiet des Straßenverkehrsrechts verantwortungsbewusst selbst verwalten zu können und dazu bereit ist, diese Regelungskompetenzen vertrauensvoll abzugeben. Er sollte diesen Schritt gehen; denn das Korrektiv der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird auch weiterhin dazu führen, dass übereifrige Kommunen, falls notwendig, mit den Mitteln des Rechts zurückgepfiffen werden können.
Das Regieren per „Ordre de Mufti“ ist passé und die Suche nach einem vernünftigen Kompromiss darf nicht an einer parteipolitischen Hartleibigkeit beider Seiten scheitern.
Weiterführende Links
Kolumne Juli 2023
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Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden“
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Vorgang im Bundesrat in der Novembersitzung
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Vorgang im Bundesrat in der Septembersitzung
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik
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