Haben Sie ich schon mal gefragt, wie man zum Verkehrsunfall-Opfer wird? Nun, man könnte erst einmal platt sagen, indem man zur falschen Zeit und am falschen Ort eine falsche Begegnung mit einem anderen Verkehrsteilnehmer, zumeist einem Fahrzeugführer, hatte. Aber dieser platte Ansatz greift deutlich zu kurz, denn ein Verkehrsunfall, der ja immer die Ursache dafür ist, ein Verkehrsunfallopfer zu werden, hat Ursachen, und zwar immer Ursachen, die vermeidbar gewesen wären, wenn …, ja wenn ein Fehler vermieden worden wäre.
Wie kann man es aber vermeiden, ein Opfer zu werden?
Bei der Betrachtung und Bearbeitung von Verkehrsunfällen muss es immer um die Vermeidung zukünftiger Verkehrsunfälle gehen, also um Gefahrenabwehr. Und jetzt wird es interessant!
Die allermeisten Verkehrsunfälle mit Verletzungsfolgen (das waren im letzten Jahr 361.134 verletzte und 2.788 getötete Menschen) werden von Kraftfahrzeugführern verursacht. Polizeibeamte verteilen für jeden Verkehrsunfall, den sie aufnehmen müssen (das waren im letzten Jahr 2.406.465 Verkehrsunfälle), bis zu zwei allgemeine und drei spezielle Schlüsselzahlen , die sogenannten Unfallursachen laut dem amtlichen Unfallursachenverzeichnis.
Ein Beispiel:
Die Polizei wird zu einem Verkehrsunfall zwischen einem Pkw-Fahrer und einem Radfahrer gerufen. Der Radfahrer wollte geradeaus fahren und der Pkw-Fahrer wollte nach rechts abbiegen und hatte dabei den Radfahrer übersehen. Es kam zum Verkehrsunfall und der Radfahrer hat sich bei dem Sturz vom Fahrrad verletzt. Es herrschte eine feuchte Witterung und die Fahrbahn war nass. Die Sichtverhältnisse waren nicht optimal.
Welche Ziffern könnte ein Polizeibeamter in die Statistik eintragen?
– 34 – Fehler beim Abbiegen nach rechts
– 73 – Regen
– 84 – Unwetter oder sonstige Witterungseinflüsse
Als Unfallverursacher erhält der Pkw-Fahrer die polizeiliche Ordnungsnummer (ON) 01. Der Radfahrer erhält die ON 02.
Nach der polizeilichen Verkehrsunfallaufnahme und der Anzeigensachbearbeitung in der Dienststelle sowie dem Versenden der Anzeige an die Bußgeldstelle werden die Unfalldaten an die übergeordnete Polizeidienststelle versandt, die diese Daten sammelt, in die örtliche Unfallkarte überträgt und dem Statistischen Landesamt online mitteilt. Sämtliche Statistischen Landesämter der 16 Bundesländer melden ihre Daten dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden, das monatlich und jährlich die amtliche Verkehrsunfallstatistik publiziert.
Wo bleibt jetzt aber die Unfallvermeidung? Wo bleibt die Prävention?
Unfalldaten erhalten parallel auch die örtlichen Verkehrsunfallkommissionen (UKO), die in jedem Landkreis und in jeder größeren Stadt existieren. Sie bestehen aus drei Vertretern (Straßenverkehrsbehörde, Straßenbaubehörde und Polizei) und betrachten regelmäßig die örtlichen Unfallkarten. In diesem Zusammenhang werden auch die sieben verschiedenen Unfalltypen betrachtet und der den aktuellen Verkehrsunfall betreffende Unfalltyp bestimmt, z. B. ein Fahrunfall unter Verlust der Kontrolle des Fahrzeugs. Wird darauf an einem Ort eine definierte Unfallhäufung sichtbar, muss die UKO tätig werden und sich Schritte zur Entschärfung der Unfallhäufung erstens überlegen und zweitens konsequent gehen. Aber das ist nur die halbe Lösung.
Verkehrsunfälle haben nicht nur amtliche Ursachen, sondern auch tatsächliche Gründe, die aber nur selten öffentlich bekannt werden. Dazu zählt z.B. die Ablenkung des Pkw-Fahrers, indem er während des Abbiegevorgangs gerade eine WhatsApp gelesen und nicht auf den Verkehr geachtet hatte. Da er nach der Kollision sein Handy sofort „verschwinden“ ließ und sein Fehlverhalten niemandem mitteilte (muss er auch nicht, weil man im deutschen Recht seine Schuld verschleiern und sogar lügen darf), hat der Polizeibeamte nur die vordergründige Unfallursache eintragen können. Damit ist die amtliche Statistik verfälscht. Diese Verfälschungen geschehen zu einem unbekannten, aber – wie man vermuten kann – sehr hohen Prozentsatz. Da aber nur die amtlich festgestellten Unfallursachen zum Erstellen eines Unfalllagebildes und zum Anlass für Präventionsmaßnahmen herangezogen werden können, besteht ein folgenschwerer Systemfehler. Die wahren Hintergründe eines Verkehrsunfalls, also die Ursachen hinter den Ursachen, bleiben viel zu oft verborgen und das gut gedachte System läuft in die falsche Richtung. Nun ist guter Rat teuer! Eine Möglichkeit wäre es, die Überwachung der Verkehrsteilnehmer, also deren Fehlverhalten, öfter zu kontrollieren, zu entdecken und darauf mit staatlichen Ordnungsmaßnahmen zu reagieren. Das Problem dabei: Es mangelt an Überwachungspersonal.
Wie könnte eine alternative Lösung aussehen?
Man appelliert beispielsweise an die Verkehrsteilnehmer und mahnt deren Vorsicht und Rücksicht an (§ 1 StVO). Doch Appelle fruchten nur bei einsichtigen Verkehrsteilnehmern und gerade die Uneinsichtigen begehen ständig Fehler und rufen Risikosituationen hervor. Dennoch geht an Präventionsmaßnahmen kein Weg vorbei und die müssen zwingend schon im Kindergarten beginnen und bis in Seniorentagesstätten ein Leben lang konsequent ergriffen werden.
Von wer soll das leisten? In erster Linie staatliche Instanzen und deren Mitarbeitern, aber auch wir alle, die wir verständig und einsichtig sind. Es ist eben eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft, das Leben und die Gesundheit von uns allen so effektiv wie möglich zu schützen.
Weiterführende Links
Amtliches Unfallursachenverzeichnis
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Unfalltypenkatalog
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.
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