//Autonom fahren: Mensch bleibt verantwortlich

Autonom fahren: Mensch bleibt verantwortlich

Mit der Mensch-Maschine-Schnittstelle im Auto beschäftigt sich der neuste Dekra Verkehrssicherheitsreport. Software und Elektronik übernehmen immer mehr Aufgaben und machen das Auto zur rollenden High-Tech-Maschine. Die Erwartungen an die technologische Entwicklung in Sachen Sicherheit sind enorm. Im gleichen Atemzug werden aber auch Bedenken mit Blick auf potenzielle neue Risiken geäußert. „Es ist wichtig, das gesamte Mobilitätssystem im Auge zu behalten, ebenso wie die wechselseitige Wirkungsdynamik. Die Rolle des Fahrers wird sich wandeln, und mit ihr das Gesamtsystem der Mensch-Maschine-Schnittstelle im Fahrzeug“, betonte Jann Fehlauer, Geschäftsführer der Dekra Automobil GmbH, kürzlich bei der Vorstellung des Dekra Verkehrssicherheitsreports 2023 „Technik und Mensch“. Der 16. Report dieser Art beleuchtet zahlreiche Problemfelder aus Sicht der Unfallforschung, der Verkehrspsychologie, der Fahrzeugtechnik, der Infrastrukturgestaltung und der Gesetzgebung.

Abgelenkt, übermüdet, überfordert – die Liste der gängigen Ursachen von Verkehrsunfällen ließe sich beliebig fortsetzen. Oder stark komprimieren: Faktor Mensch. Nach polizeilichen Verkehrsunfallanzeigen der Polizei sind fast alle Verkehrsunfälle mit menschlichem (Fehl-)Verhalten erklärbar. Mängel in Sachen Infrastruktur oder gar Technik werden nur in den seltensten Fällen als ursächlich oder mitursächlich genannt. Die Übertragung möglichst aller Fahraufgaben auf die Fahrzeuge gilt daher für viele als das beste Mittel zur Unfallprävention. „Moderne Assistenzsysteme sind die Grundlage für die zunehmende Automatisierung des Straßenverkehrs und können viele Unfälle verhindern oder zumindest die Unfallfolgen minimieren. Gleichzeitig können automatisierte Fahrfunktionen auch neue Problemfelder mit sich bringen“, so Fehlauer.

In Sachen Unfallvermeidung sei mit Blick auf die „Vision Zero“, die viele Staaten der Welt bis zum Jahr 2050 verfolgen, – also das Ziel eines sicheren Straßenverkehrs, in dem es bei Unfällen möglichst keine Getöteten und Schwerverletzten mehr gibt – noch viel zu tun. Das zeige allein schon ein Blick auf die Entwicklung in der EU. Wie Fehlauer ausführte, reduzierte sich hier zwar die Zahl der Verkehrstoten von 2001 bis 2020 um fast 63,5 Prozent von 51.400 auf 18.800. Allerdings stagnieren die Zahlen seit ungefähr 2012, der historische Tiefstand im Jahr 2020 ließe sich vor allem mit Einflüssen der Pandemie erklären. Seitdem steigen die Zahlen wieder an – auf 19.900 im Jahr 2021 und 22.600 im Jahr 2022. Der prozentuale Rückgang gegenüber 2001 schrumpft damit auf nur noch 56 Prozent. Weltweit schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO die Zahl der jährlichen Verkehrstoten auf aktuell rund 1,3 Millionen.

Sichere „Game Changer“ für die Mobilität

Automatisierte Fahrsysteme sind nach Ansicht von Kristian Schmidt, Europäischer Koordinator für Straßenverkehrssicherheit, ein „Game Changer“. „Vernetztes und automatisiertes Fahren hat ein großes Potenzial, die Mobilität sicherer und zugänglicher zu machen“, schreibt Schmidt im Dekra Verkehrssicherheitsreport. Aus seiner Sicht ergeben sich aber auch neue Herausforderungen – etwa mit Blick auf Cybersicherheit sowie auf den sicheren Betrieb hochautomatisierter Fahrzeuge im Mischverkehr. „Wir müssen sicherstellen, dass automatisierte Fahrzeuge sicher sind, bevor wir sie auf Europas Straßen fahren lassen. Wenn die Typgenehmigung hier scheitert, kann die gesamte Technologie in Misskredit geraten“, schreibt Schmidt.
Antonio Avenoso, Geschäftsführer des Europäischen Verkehrssicherheitsrats (ETSC), macht sich in seinem Statement für die EU-weite Meldepflicht von Unfällen mit Beteiligung von Systemen für assistiertes und automatisiertes Fahren stark – ebenso wie für eine zentrale Behörde für die Erfassung der so gesammelten Daten, die Überwachung detaillierter Unfalluntersuchungen und die Aufsicht über die sichere Einführung neuer Technologien. „Falls Computercodes oder Sensoren ein Problem verursachen, das zu einem Unfall beigetragen hat, müssen wir das wissen, damit wir zukünftige Probleme vermeiden können“, so Avenoso.

Assistenzsysteme dürfen nicht ablenken oder überfordern

Wie Dekra-Experte Fehlauer erläutert, muss bei aller sinnvollen Technik insbesondere auch immer sichergestellt sein, dass sie den Fahrer nicht ablenkt oder überfordert: „Grundvoraussetzung für den Einsatz von Assistenzsystemen ist, dass sie für alle Nutzer leicht verständlich sind.“ Ihre Bedienung dürfe nicht zu neuen Risiken oder Gefahren führen, mit denen die erzielten Erfolge in der Verkehrssicherheit wieder aufs Spiel gesetzt werden.
Dass diese Gefahr durchaus besteht, zeigen die von Dekra exklusiv für den Verkehrssicherheitsreport durchgeführte Untersuchungen – eine Studie mit Probanden zu Bedienkonzepten im Fahrzeug sowie eine Forsa-Befragung. Die Ergebnisse werden im Report näher vorgestellt. In Fahrversuchen auf dem Gelände des Dekra Technology Centers am Lausitzring in Brandenburg wurde außerdem der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen sogenannte Sensor-Dejustagen auf die Verkehrssicherheit haben können. Mit weiteren Fahrversuchen zeigten die Experten, dass das technische Potenzial von Notbremsassistenten in Lkw nicht von allen Herstellern ausgeschöpft wird und dass manche Systeme in ihrer Wirkung durch das Verhalten des Fahrers unbeabsichtigt beeinträchtigt werden können.

Verantwortung bleibt beim Menschen

Doch welche Assistenzsysteme in einem Fahrzeug auch immer verbaut sein mögen: Stand heute bleibe die Verantwortung beim Menschen. So müssten die Fahrer jederzeit die volle Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr richten und bei Bedarf eingreifen beziehungsweise die Systeme übersteuern. „Gerade sehr gut und zuverlässig funktionierende Systeme insbesondere etwa in den Bereichen Abstandsregelung und Spurhalten verleiten aber viele Verkehrsteilnehmer dazu, sich auch anderen Aufgaben als dem Fahren zuzuwenden“, gibt Jann Fehlauer zu bedenken. Mehrere schwere Unfälle seien schon die Folge einer solchen Fehleinschätzung bezüglich der Systemauslegung gewesen. Kritisch könnten solche Systeme auch dann werden, wenn der Fahrer gesundheitliche Probleme bekommt und dies nicht erkannt wird. Mit weiter zunehmendem Automatisierungsgrad gehe zudem die alltägliche Fahrerfahrung zurück. „Sie ist aber gerade in den kritischen Fahrsituationen unabdingbar, in denen ein automatisiertes System wieder an den Fahrer übergibt“, so Fehlauer. Für diese Herausforderung gebe es aktuell noch keine befriedigende Lösung.
Bei allen technischen Weiterentwicklungen im Kraftfahrzeugbereich dürfe nach Ansicht des Dekra Automobil Geschäftsführers nie vergessen werden, dass die Akzeptanz und die Beachtung der entsprechenden Verkehrsregeln für jede Art von Verkehrsteilnahme ganz essenzielle Sicherheitsbausteine seien. In jedem Moment erfordere die Teilnahme am Straßenverkehr ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. „Bis auf weiteres ist und bleibt es der Mensch, der durch sein Verhalten den wesentlichen Beitrag zur Sicherheit im Straßenverkehr leistet.“

Der Dekra Verkehrssicherheitsreport 2023 „Technik und Mensch“ steht online hier zum Download zur Verfügung. Dort finden sich auch sämtliche Vorgänger-Reports inklusive weitergehender Inhalte, etwa in Form von Bewegtbildern oder interaktiven Grafiken.

Zehn Dekra Forderungen für mehr Verkehrssicherheit

• Der Ansatz einer kooperativen Assistenz, bei dem die Technik den Menschen unterstützt und seine Schwächen ausgleicht, sollte Vorrang haben vor technologielastigen Lösungen, die den Menschen nur noch als „Problemlöser“ benötigen.
• Um den Nutzen von Assistenzsystemen sicherzustellen, müssen Fahrzeugführer besser über den jeweiligen Anwendungsbereich sowie über die Systemgrenzen und die Bedienung informiert sein. Diese Informationen müssen nicht nur Erst-, sondern auch Zweit- oder Drittnutzern der Fahrzeuge zur Verfügung stehen.
• Hochautomatisierte Systeme müssen auch komplexe Verkehrssituationen einschließlich der Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmern adäquat entschlüsseln und schlussfolgernd interpretieren können.
• Wenn ein System die Fahraufgabe übernommen oder wieder abgegeben hat, muss dies dem Nutzer eindeutig angezeigt werden.
• Die Mindestanforderungen an die von den Herstellern definierten Betriebsbereiche für automatisierte Fahrzeuge müssen eindeutig geregelt werden. Dazu sind Festlegungen über Parameter wie Geschwindigkeit, Straßenklasse und Witterungsbedingungen erforderlich.
• Eine ergonomisch-effektive Cockpitgestaltung muss die jeweiligen Informationen zeitgerecht, relevant, situationsspezifisch und klar verständlich darstellen.
• Dringend erforderlich ist die herstellerunabhängige Standardisierung sicherheitsrelevanter Bedienfunktionen bezüglich der Anordnung, des Anbringungsorts und der Handhabung der Bedienelemente im Fahrzeug-Cockpit.
• Auch bei den heutigen Systemen der aktiven und passiven Sicherheit muss das sich noch bietende Potenzial zur Unfallvermeidung oder Verminderung der Unfallfolgen konsequent erschlossen werden. Die Automatisierung ist kein schnelles Allheilmittel.
• Die Funktionsfähigkeit mechanischer und elektronischer Komponenten der Fahrzeugsicherheit muss über das gesamte Fahrzeugleben hinweg gewährleistet sein und systematisch im Rahmen der technischen Fahrzeugüberwachung geprüft werden. Die dafür erforderlichen Informationen müssen bereitgestellt werden.
• Im Sinne der Vision Zero muss aktiv nach Gefahrenstellen gesucht werden, um diese dann schnellstmöglich mittels baulicher und/oder nachvollziehbarer verkehrsregelnder Maßnahmen zu entschärfen. Dabei müssen die Anforderungen moderner Assistenzsysteme berücksichtigt werden.

(Dekra/bic)