//Ablenkung am Steuer durch Handy & Co.: Die am meisten unterschätzte Unfallursache

Ablenkung am Steuer durch Handy & Co.: Die am meisten unterschätzte Unfallursache

Im stressgeplagten Alltag laden Smartphones dazu sein, schnell mal etwas nachzuschauen oder kurz mal etwas zu erledigen. Außerdem könnte man ja etwas verpassen! Im Straßenverkehr wirkt sich diese „Handymanie“ besonders eklatant aus. Ablenkung ist zu einem Thema für die Verkehrssicherheit geworden, nicht erst seit gestern. In der Politik reagierte man bereits zu Anfang der 2000er Jahre und führte das Handyverbot ein. Doch trotz mehrerer Verschärfungen in der Folgezeit und trotz strenger Gerichtsurteile bleibt das Problem bestehen. Es verschärft sich sogar noch, wie eine Untersuchung der Allianz belegt.

Seit 2021 wird Ablenkung als Unfallursache in den Polizeiberichten aufgeführt und vom Statistischen Bundesamt erfasst. Demnach wurden 2021 mehr als 8.200 Menschen bei Verkehrsunfällen durch Ablenkung verletzt. 117 verloren ihr Leben. Das waren knapp fünf Prozent aller Unfalltoten. Dabei muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, denn die Bestimmungen zur Erhebung eines Ablenkungsunfalls sind sehr streng, da kann es leicht passieren, dass der eine oder andere Unfall fälschlicherweise keine Berücksichtigung findet.

Die Studie des Versicherungsunternehmens zeigt, „dass Ablenkung die am meisten unterschätzte Unfallursache auf unseren Straßen ist“, wie Jörg Kubitzki vom Allianz-Zentrum für Technik (AZT) die Ergebnisse zusammenfasst. Ganz neues Material für 2022 bestätigt diese Einschätzung eindrucksvoll. Demnach erhöhte sich zwischen Januar und Oktober 2022 die Zahl der Ablenkungsunfälle zum Vorjahreszeitraum um nicht weniger als 25 Prozent.

Die AZT-Experten führten Befragungen durch und werteten Statistiken aus. Dabei fiel ihnen auf, dass sich immer mehr Autolenker während der Fahrt mit Lesen und Tippen von Nachrichten beschäftigen. In nur sechs Jahren hat sich der Anteil derjenigen, die sich selten bis sehr häufig mit Nachrichten auf dem Handy während der Fahrt beschäftigen, um fast zwei Drittel erhöht. 24 Prozent sind es aktuell 2022 insgesamt. „Texten ist das neue Telefonieren“, bringt es AZT-Leiter Christoph Lauterwasser auf den Punkt. „Besorgniserregend“ sei das, immerhin steige das Unfallrisiko bei einem „Blindflug“ des Autofahrers um 50 Prozent.

Heutzutage verfügt nahezu jeder Autofahrer über ein Handy, und einen Bordcomputer im Wagen hat jeder zweite, wovon immerhin die Hälfte angibt, durch die Bedienung abgelenkt zu werden. Einige Funktionen sind besonders kritisch. Als krasses Beispiel nennen die Allianz-Forscher den aktiven Spurhalteassistenten. Der hält durch automatisches Gegenlenken das Auto in der Spur. Mancher Zeitgenosse nutzt diese an sich sinnvolle Einrichtung, um sich während der Fahrt mit beiden Händen am Handy zu schaffen zu machen.

Hauptgefahrenquelle: das Radio

Als besonders häufige Gefahrenquelle sticht das Autoradio hervor. Die Einstellungen muss der Fahrer nicht selten aus den Untiefen von Touchscreen-Menüs erfummeln. Die Wahrscheinlichkeit, dabei einen Unfall zu bauen, steigt um beängstigende 90 Prozent, wie in der Allianz-Untersuchung ermittelt wurde.

Mit der technischen Entwicklung der Geräte und der dafür konzipierten Angebote verändert sich auch das Verhalten der Nutzer. Smartphone, Infotainmentsystem und Co. werden für immer mehr Formen der Kommunikation und Unterhaltung genutzt, zum Spielen oder Surfen, zur Musikauswahl oder zum Anschauen von Bildern sowie für die unüberschaubare Anzahl an sozialen Netzwerken und Verkaufsplattformen. Tummelten sich in diesen virtuellen Gefilden im Jahr 2016 nur gut jeder siebzehnte von der Allianz befragte Autofahrer, bekannte sich 2022 „bereits mehr als jeder fünfte dazu“, konstatiert Lauterwasser.

Junge Autofahrerinnen und Autofahrer sind erwartungsgemäß besonders anfällig für das Daddeln am Steuer. Von den 18- bis 24jährigen Umfrageteilnehmern gab jeder dritte an, ab und zu bis sehr häufig ein Auto mit dem Smartphone in der Hand zu steuern. Das sind doppelt so viele wie im Gesamtdurchschnitt aller Altersgruppen. Allein vier von zehn jungen Leuten befassen sich mit Textnachrichten. Den Studienautoren zufolge entspricht das einem Anstieg seit 2016 um 250 Prozent.

Ernüchtert merken die AZT-Experten an, dass die Aufklärungsarbeit der vergangenen Jahre nicht zu einer sozialen Ächtung des Handys am Steuer geführt habe, wie es beim Alkohol gelungen sei. Ablenkung dürfe aber nicht zum „Gewohnheitsrecht“ werden, fordert Allianz-Vorstandsmitglied Lucie Bakker. Sie sieht den Hebel für Verbesserungen in einer höheren Akzeptanz für Überwachungssysteme im Auto, die bei Unaufmerksamkeit des Fahrers Alarm schlagen.

Die beunruhigenden Ergebnisse der Allianz-Studie müssen auch von einer gesellschaftlichen Warte aus betrachtet werden, will man tragfähige Lösungen entwickeln. Psychologen berichten seit längerem von einem ausgreifenden Suchtverhalten bei der Nutzung von Smartphones, das durch die soziale Isolation während der Lockdowns noch zugenommen hat. Zumal die allermeisten kommerziell ausgerichteten Apps es geradezu darauf anlegen, dass man sie möglichst häufig und möglichst lange benutzt. Die Allianz-Forscher sprechen davon, dass der Tagesablauf von mittlerweile sehr vielen Menschen durch Apps dominiert werde. Dieses Phänomen besteht im Auto selbstverständlich fort. Für nachhaltige Lösungsansätze muss die Komplexität des Problems wohl berücksichtigt werden.

Mobilitätsklubs verlangen seit längerem, dass die Nutzung von Unterhaltungsangeboten und von nicht erforderlichen Apps während der Fahrt technisch unterbunden werden, und in den Berichten der Fachmedien wird immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass sich verschachtelte Menüführungen und die unhandliche Bedienung von Autolicht, Heizung oder Radio geradezu gemeingefährlich auf die Aufmerksamkeit der Autofahrer auswirken. Doch die Automobilhersteller tun sich schwer, diese Kritik anzunehmen. Im Gegenteil, sie steigern die Angebote und die Komplexität der Geräte sogar noch, um in der Werbung gut dazustehen und im Wettbewerb um die Gunst der Käufer mitzuhalten. An den Geräten verdienen sie schließlich gutes Geld, sehr gutes Geld sogar.

Kristian Glaser (kb)
Foto: Unfallforschung der Versicherer – UDV