Ende September 2022 besuchten Mitglieder des VdM aus der Stuttgarter Umgebung auf Initiative von Leopold Mikulic und Gottfried Weitbrecht das Prüf- und Technologiezentrum (PTZ) von Mercedes-Benz in Immendingen. Bei strahlendem Wetter kam die Gruppe gegen 10:00 Uhr an der Markenkommunikationsfläche (MKF) an. Dort begrüßte uns der Leiter des Zentrums, Reiner Imdahl, zusammen mit weiteren Ingenieurinnen und Ingenieuren.
Das im Jahr 2011 erworbene Gelände hat 520 Hektar (5,2 km2) Gesamtfläche, wovon mittlerweile 150 Hektar versiegelt sind. Ehemals als Teil der Deutsch-Französischen Brigade und des Bundeswehr-Dienstleistungszentrums befand sich hier früher die Oberfeldwebel-Schreiber-Kaserne. Das Testgelände in Immendingen sollte eine näher (ca. 120 km) zu Mercedes Benz in Stuttgart und Sindelfingen liegende Alternative zum bereits vorhandenen Testgelände Papenburg (Niedersachsen, ca. 630 km) darstellen. Immendingen kam nach 120 untersuchten Standorten mit elf anderen in die engste Auswahl. Der ehemalige Truppenübungsplatz Münsingen zum Beispiel wurde als alternativer Standort ausgeschlossen, da dort geschätzt 600.000 Granaten im Gelände liegen.
Der ausschlaggebende Grund für die Entscheidung für Immendingen war die für den Bau der Teststrecke positiv gestimmte Gemeinde. Das PTZ Immendingen ist mit 68 Kilometer Strecke zwar nicht das größte Testzentrum Deutschlands, jedoch mit über 30 verschiedenen anspruchsvollen Teststrecken das komplexeste. Das PTZ bietet derzeit ca. 500 Arbeitsplätze, darunter 240 für Mercedes-Benz Mitarbeitende zudem weitere Beschäftigte bei der Feuerwehr, für die Grünflächenpflege sowie Dauerlauf-Fahrer.
Mercedes-Benz berücksichtigte beim Bau des PTZ, von Februar 2015 bis 2019, ganz bewusst die Belange von Anwohnern und der Natur. Lärmemittierende Prüfstrecken wurden so platziert, dass natürliche Geräuschbarrieren gegenüber der Wohnbebauung Immendingen bestehen. Im Dialog mit Natur- und Umweltschutzverbänden wurden umfangreiche Naturschutzmaßnahmen umgesetzt. Ein Wildkorridor mit Brücke und Tunnel, der quer durch das Areal führt, bietet eine Passage für die beheimateten Tiere. Auch Pflanzen, wie zum Beispiel geschützte wilde Orchideen, Blüh- und Magerwiesen, sowie umfangreiche Waldflächen gehören zum bewussten, umweltverträglichen Konzept. Schafe grasen als natürliche Wiesen-Mäher und werden wiederum von Lamas vor Raubtieren behütet. So wurde auf dem Gelände bereits mehrfach ein gechipter Luchs beobachtet.
Aufbruch ins Testgelände
Mit einem Werksbus ging es durch Tor 2 auf das Testgelände, auf dem Reiner Imdahl die verschiedenen Teststrecken und Prüfflächen erläuterte.Zunächst zeigte sich das Innenstadt-Modul im Norden des Geländes mit 1,5 Kilometer Stadtstraßen mit verschiedenen Kreuzungen. Beim Innenstadt-Dauerlauf werden hier Fahrassistenzsysteme, Car-to-X Kommunikation sowie automatisiertes Fahren in realitätsnahen Bedingungen auf Herz und Nieren geprüft. Zu dem Innenstadt-Bereich gehört auch ein spezielles Parkhaus, um automatisiertes Parken zu testen.
Gleich im Anschluss gibt es den legendären „Heide-Dauerlauf“, der seinen Namen den miserablen Landstraßen der Lüneburger Heide in den 1950-er Jahren verdankt. Auch die Schlechtwegeparcours auf den Versuchsstrecken in Untertürkheim und Sindelfingen waren bereits maßstabsgenau der Marterstraße aus der Heide nachgebaut. Nun findet diese Dauererprobung in Immendingen statt. Die für die Fahrer sehr anstrengende Erprobungsfahrten werden zukünftig auch autonom möglich sein.
Nachdem sie die ersten beiden Teststrecken erkundet hatte, fuhr die Gruppe samt Bus auf einige der sieben verschiedenen Steigungen von zwölf bis 100 Prozent (die steilsten Anstiege und Gefälle bleiben Geländewagen und Unimogs vorbehalten.) Das Gelände ermöglicht unter anderem das Anfahren am Berg unter erschwerten Bedingungen wie auf Nässe oder bei bis zu drei Rädern auf niedrigen Reibwerten. Kältecontainer direkt vor den Steigungen ermöglichen Kaltstartversuche mit anschließender hoher Lasteinbringung. Der Bus meistert die 30-Prozent-Steigung ohne Probleme.
Der „Feldweg“ wurde nicht „erfahren“. Er folgt einem großen Teil der Zaunführung des Prüfgeländes. Auf vier Meter Breite, insgesamt 7,1 Kilometern Länge und Steigungen bis zu 20 Prozent können hier intensive Verschmutzungs-, Steinschlags- und Korrosionsschutztests stattfinden. Auf einer weiteren 1,2 Kilometer „Schlechtweg-Verschmutzungsstrecke“ werden Fahrzeuge mit besonders hartnäckige, feuchtem Schotterbelag aus Kalksteinmergel und Kalksandsplit malträtiert.
Nach Überquerung der serpentinenartigen Kurven der Passstraße mit bis zu 16 Prozent Steigung erreichte die VdM-Gruppe die „Bertha“-Fläche. Hier finden auf 100.000 Quadratmetern ‚topfebenem‘ Asphalt Erprobungen zu Assistenzsystemen und automatisierten Fahrfunktionen statt. Um sicherheitsrelevante Situationen nachzubilden, helfen „Softtargets“ (Deutsch: weiche Ziele), die aus einem fern-steuerbarem, flachem Driveboard und einer weichen Hülle in Optik eines Fahrzeugs bestehen. Damit können zum Beispiel Systeme zur Vermeidung von Kollisionen realitätsnah aber ohne Risiken getestet werden. Gleich daneben befindet sich die kreisförmige Fahrdynamikfläche mit 260 Meter Durchmesser. Hier können, dank weiter Auslaufzonen, Fahrzeuge gefahrlos an ihre fahrdynamischen Grenzen und darüber hinaus gebracht werden.
Weiter fährt der Bus über die Fernstraßengerade, eine autobahnähnliche, zweispurige Strecke für längsdynamische Erprobungen, bis zum Ovalrundkurs, sozusagen die ‚Carrera-Bahn‘ des Prüfzentrums. Mit zwei Steilkurven in jeweils Nord- und Südausrichtung ist der vier Kilometer lange Kurs bei bestimmten Geschwindigkeiten (135 bzw. 160 km/h) „querkraftfrei“ befahrbar, also ohne zu lenken. Die somit ‚unendliche Gerade‘ simuliert Autobahnfahrten, nützlich insbesondere für die Entwicklung automatisiert fahrender Fahrzeuge. Nach einer Runde mit dem Bus auf dem „Oval“ stand die Mittagspause an. Der nächste Halt war die Werkskantine.
Zurück zur Markenkommunikationsfläche und die Vorführung von Fahrassistenzsystemen
Nach der Führung und dem Mittagessen, zurück auf der MKF, teilten Jochen Haab und Katharina Kupferschmid die Gruppe in Teams von zwei bis drei Personen auf. Jedes Team konnte in Betreuung von Ingenieurinnen und Ingenieuren fünf verschiedene Stationen durchlaufen und in den bereitgestellten Fahrzeugen die jeweiligen Fahrassistenzsysteme erfahren.
Sebastian Himmel stellt den Anhänger-Rangier-Assistent vor. Mit dieser Funktion kann der weniger routinierte Anhänger-Fahrer das Lenken beim Rangieren dem Fahrzeug überlassen. Nach Eingabe der Richtung reicht es, vorsichtig Gas zu geben, um den Anhänger in die gewünschte Position zu fahren. Auch eine kurvige Strecke rückwärts zu befahren wird zum Kinderspiel und kann über den Bildschirm mit dem Finger gesteuert werden.
Den Aktiven-Abstands-Assistent erfahren die Teams mit Tobias Börner. Mit Hilfe von Softtargets stellen die Prüfingenieure verschiedene Situationen dar, in denen unterschiedliche Funktionen zur Geltung kommen. Der Aktive Bremsassistent bietet dem Fahrer im Fall einer kalkulierten Aufprallmöglichkeit neben einer Abstands- und Kollisionswarnung auch eine situationsgerechte Bremsverstärkung, falls die Fahrerin oder der Fahrer zu schwach bremst. Mit dem Notbremsassistent kommt das Fahrzeug sogar zum Stehen, auch wenn der Fahrer auf die Warntöne nicht reagiert. Während eines Manövers hören die Teilnehmer ein Geräusch, wie eine Mischung aus Rauschen und Knistern. Der „PRE-SAFE® Sound“, erklärt Tobias Börner. Falls nach Berechnung trotzdem die Gefahr von einem Aufprall besteht, bereitet dieser die Ohren auf den Knall der Airbags vor.
Eines der Kamera- und Park-Assistenzsysteme ist die sogenannte „transparente Motorhaube“. Tobias Grosch erklärt und demonstriert, wie sie funktioniert. Kameras, die rings um das Fahrzeug eingebaut sind, bilden zusätzlich zu den direkten Ansichten weitere Ansichten, die aus kumulierten Daten erstellt werden. Diese neuen Ansichten werden „virtuelle Kameras“ genannt. Zum Beispiel kann mit dieser Funktion das Fahrzeug aus der Vogelperspektive betrachtet werden. Eine dieser Ansichten zeigt mit einer kleinen Zeitversetzung, was gerade unter der Motorhaube bzw. unter dem Motor zu sehen ist. Besonders im Gelände mit starken Steigungen und Gefällen ist diese Funktion hilfreich, wenn aus der Windschutzscheibe nur der Himmel sichtbar ist.
Elina Knaub führte den Teams den automatisierten Park Assistent vor. Ein bisschen Vorführeffekt ist auch dabei, jedoch schafft es das Fahrzeug, in die bei 35 km/h gefundene Parklücken quer oder längs ein- und wieder auszuparken. Eine besondere Funktion ist, das Fahrzeug mit Hilfe von einer App in die Parklücke aus- und einfahren zu können, während die Fahrerin schon ausgestiegen ist. Es gibt auch eine Memory-Park-Assist Funktion, mit der das Fahrzeug eine festgelegte Trajektorie mit 5 km/h immer wieder abfahren kann, um an einen Parkplatz zu gelangen, wie zum Beispiel in den Carport.
Der Bremsassistent und die Kollisionsvermeidungsfunktion können lebensrettend sein, besonders bei Innenstadtbedingungen. Das zeigt Dennis Engelke an Softtargets in Form eines Kindes, das über die Straße läuft bzw. einem anderen Fahrzeug. Bei einem Stoppschild, einer roten Ampel oder einem Fußgänger ertönen Warnsignale, um die Aufmerksamkeit des Fahrers zu erregen. Das Fahrzeug kann auch aktiv bei Ausweichmanövern helfen. Nachdem der Fahrer den Lenkimpuls gibt, weicht das Fahrzeug kontrolliert aus, um dem Hindernis zu entgehen. Dies ist besonders hilfreich, wenn die Fahrerin von solchen plötzlichen Reaktionen überfordert sein könnte.
Melisa Seyrek
Fotos: Mercedes-Benz