DVR-Forum zu Faszination und Sicherheit des Motorradfahrens
Um es vorweg einmal so auszudrücken: Eine Veranstaltung nach dem Motto, lasst diese gefährlichen Dinger doch bitte einfach stehen, war es nicht. Die Agenda des DVR-Forums 2022 stimmte durchaus mit seiner Überschrift „Freiheit, Fahrspaß, Sicherheit – Wegweiser für sicheres Motorradfahren“ überein. Als kleinen Akzent könnte man höchstens den dritten Begriff im Titel imaginär unterstreichen. Aber man ist ja auch zu Besuch beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat, genauer gesagt, via professionell gestaltetem Online-Austausch.
Motion mit Emotion – kompakter ist die Faszination um das Fahren mit dem Motorrad nicht zu definieren. Die pure Lust an der Bewegung im Einklang mit der Maschine lässt die Leute schließlich auf praktischere Vehikel verzichten, mit denen man auch von A nach B gelangte, und dies dazu sicherer. Selbst wenn die Zahlen langsam sinken, eines bleibt Gewissheit: Keine andere Art am Straßenverkehr teilzunehmen, ist nur annähernd so riskant wie die mit dem Bike, Fußgänger eingeschlossen. Bezogen auf die zurückgelegte Fahrstrecke liegt das Risiko, schwer zu verunglücken, um den Faktor 30 höher als für Insassen im Pkw. Festzustellen ist jedoch auch: Fahrer und Fahrerinnen bekunden heute ein gefestigtes Sicherheitsbewusstsein, der Anteil besonders leistungsstarker Kräder geht zurück, und etwa neu entwickelte Assistenzsysteme gewähren ermutigende Ausblicke in Sachen Sicherheit. Auch an den Straßen findet Fortschritt statt: Einzelne Infrastrukturmaßnahmen können für einen investierten Euro einen volkswirtschaftlichen Nutzen von bis zu deren zehn bewirken.
In der EU gibt es 36 Millionen motorisierte Zweiräder, in Deutschland sind es etwa 6,5 Millionen, davon 4,5 Millionen Bikes mit amtlichen Kennzeichen. Seit 2017 stiegen die Motorradverkäufe in Deutschland um nicht weniger als 40 Prozent. Gleichzeitig ist seit Jahren ein Rückgang des Anteils von Maschinen mit mehr als 99 PS zu registrieren, auf aktuell etwa 25 Prozent der Neuzulassungen. Zwölf Millionen besitzen einen einschlägigen Führerschein, manche schon sehr lang. Dr. Michael Weyde, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Straßenverkehrsunfälle, beziffert in seinem Beitrag „Typische Motorradunfälle und ihre Ursachen“ den Anteil der 35 bis 64 Jahre alten Motorradfahrer auf rund 75 Prozent, währenddessen die Altersgruppe von 21 bis 29 heute gerade einmal sechs Prozent repräsentiert, zwei Prozent sind älter als 70. Der Referent, seit vielen Jahren selbst begeisterter wie umsichtiger Motorradfahrer, gehört im Übrigen mit 52 Jahren zur mittleren Gruppe.
Im Zweifelsfall mehr Schräglage, nicht weniger
Gut 70 Prozent der 393 getöteten Kradfahrer zählte das Statistische Bundesamt 2020 als Hauptunfallverursacher, bei den verletzten waren es 62 Prozent beziehungsweise 23.346. Häufigster Unfalltyp bei Motorrädern ist der Allein-Unfall. Er betraf – insbesondere in Kurven – 36 Prozent der getöteten und 34 Prozent aller verunglückten Kradfahrer. Vor allem Selbstüberschätzung, aber auch mangelnde Übung führen zum Unglück. Oft hätte der Biker nicht mit weniger, sondern mit mehr Schräglage den Radius halten können. Nach dem Alleinunfall folgt, so Weyde, statistisch der Zusammenstoß mit anderen Verkehrsteilnehmern, was in vier von fünf Fällen ein querender Pkw ist. Besonders dramatische Folgen ziehen Unfälle im Gegenverkehr nach sich, etwa beim Überholen zur Unzeit. Hier können sich auch die Pkw-Insassen nicht mehr in – relativer – Sicherheit wähnen, denn bei einer Crash-Testreihe (Auto 62, km/h, Krad 85 km/h) flog der Dummy schlichtweg durchs Auto hindurch.
Neu zugelassene Maschinen über 125 ccm müssen spätestens 2017 EU-weit mit einem ABS-System ausgestattet sein. Dem Nutzen dieses Assistenzsystems misst Sachverständiger Weyde größte Bedeutung bei. Untersuchungen zeigten, dass gerade bei tödlichen Unfällen die Kradfahrer vor der Kollision gestürzt waren. Damit trat vor dem eigentlichen Aufprall auf ein Hindernis wie einen querenden Pkw eine signifikant geringere Verzögerungen ein. In Zahlen: 2 – 5 m/s² bei einem rutschenden Bike gegenüber bis zu 10 m/s² bei voll gebremsten Motorrädern. Gelänge es, den vorzeitigen Sturz zu verhindern, werde in so entscheidendem Maß kinetische Energie abgebaut, dass nach Ansicht Weydes etwa zwei Drittel überlebt hätten, wenn mit Antiblockiersystem verzögert worden wäre.
Radar-„Augen“ nach vorn wie hinten
Zur Weitung des Stichworts Assistenz packte Christian Pfeiffer, Projektleiter für Assistenzsysteme im Motorrad von Continental Engineering Services, unter dem Code ARAS ein dickes Paket an technischer Vorsorge für den motorisierten Zweiradfahrer aus. Diese Fahrerassistenzsysteme im Motorrad decken sich weitgehend mit solchen, die bislang – wenn überhaupt – nur aus dem Pkw bekannt sind. Als da sind: Totwinkelwarner beziehungsweise Spurwechselwarner, Adaptives Cruise Control, Verkehrszeichenerkennung, automatisches Fahrlicht, Spurkontrolle und Kollisionswarner mit Notbremsassistent. Dazu ist das Krad sowohl mit Kamera an Front wie Heck als auch mit Radaraugen in beide Richtungen ausgestattet. Der Spurwechselwarner ist dazu in der Lage, eine Strecke von rund 100 Metern nach hinten zu überblicken und auch bei einem mit sehr hoher Relativgeschwindigkeit nahenden Auto zuverlässig zu warnen. Erste Maschinen sind bereits mit ARAS verfügbar. Der nächste große Schritt, den vernetzten Straßenverkehr, sieht auch Pfeiffer noch in weiter Ferne.
Infrastrukturelle Maßnahmen für mehr Sicherheit von Bikern stellte – mit dem Schwerpunkt seines Bundeslandes – Dr. Volker Spahn von der Zentralstelle für Verkehrssicherheit im Straßenbau der Landesbaudirektion Bayern vor. Wer mit kundigen Augen den Straßenrand betrachtet, findet eine Unzahl von teils ganz unscheinbaren Hindernissen, die beim häufigen Unfalltyp „Abkommen von der Fahrbahn“ zu schweren oder tödlichen Verletzungen führen. Diese zu identifizieren beziehungsweise nach erfolgter Abhilfe zu begutachten, übernehmen gestandene Praktiker – nämlich ausschließlich Fachleute, die auch den Motorradführerschein besitzen und nutzen. Beseitigt werden Mauern, Grenzsteine, Wasserdurchlässe im Straßengraben, Geländer, Schilder, Werbeelemente und vieles mehr.
Spurrinnen, unterschiedlich griffige Fahrbahnbeläge, Risse, Schachteinbauten und Aufwölbungen et cetera führen zum Verlust der Fahrzeugkontrolle und werden möglichst frühzeitig beseitigt. Zum Vermeiden von Unfällen im Gegenverkehr hilft oft nur noch der Einsatz von Mittelleitschwellen auf exponierten, unfallauffälligen Motorradstrecken, und vor sehr engen Kurven können Rüttelstreifen den Biker einbremsen. Der Nutzen aller Maßnahmen ist zwar selten kurzfristig zu überprüfen. Mit Sicherheit hoch ist er laut Dr. Spahn jedoch beim Unterfahrschutz an Leitplanken, mit dem rund 800 bayerische Kurven ausgestattet sind. „Da bringt ein Euro Kosten zehn Euro an volkswirtschaftlichem Nutzen.“
Die Biker sind besser als ihr Ruf
Vor allem der Faktor Mensch bestimmte die abschließende Gesprächsrunde des Forums mit Matthias Haasper, Leiter des Instituts für Zweiradsicherheit e.V., Karin Karrasch, Mitglied im Vorstand des Bundesverbands der Motorradfahrer e.V. (BVDM), und Kirsten Lühmann, Vizepräsidentin der Landesverkehrswacht Niedersachsen. Die hohe Risikobereitschaft werde dem Biker schlechthin etwas zu Unrecht unterstellt. Haasper macht dafür nicht zuletzt die oft negativ konnotierte Berichterstattung in den Medien verantwortlich. Einer Umfrage des ifz unter 4.000 Männern und Frauen sage das Gegenteil. „Die Leute wollen möglichst gefahrlos unterwegs sein und unversehrt ankommen.“
70,6 Prozent der Befragten stuften sich bei der Umfrage als sichere Fahrer ein, so dass die Frage aufkam: Was ist mit beziehungsweise für die verbliebenen 30 Prozent zu tun? Kirsten Lührmann, die für den erweiterten Mehrphasenführerschein plädiert, möchte diejenigen stärker zu verpflichtenden Maßnahmen heranziehen, die als Verkehrsrowdys notorisch sind. „Geldstrafen bewirken da wenig, Bewusstsein schaffen ist besser.“ Und für Karin Karrasch ist beim Stichwort Fahrsicherheitstraining Luft nach oben, wo im geschützten Raum extreme Situationen erfahren und dann im realen Verkehrsgeschehen leichter bewältigt werden können. Sie bedauerte zudem, dass die neuesten Assistenzsysteme für viele bis auf Weiteres nicht erschwinglich seien.
Die Frage nach Vorschriften in Sachen Ausrüstung über den obligatorischen Helm hinaus, fand in der Runde letztlich wenig Unterstützung. Matthias Haasper kommentierte das so: „Wer etwa zur Schule fährt oder in der Stadt auf dem Roller unterwegs ist, wird das kaum mit Lederkombi tun. Wer aber mit dem Motorrad bei höheren Geschwindigkeiten außerorts fährt, ist in aller Regel bestens ausgerüstet. Die mit dem T-Shirt, das sind nur ganz wenige, aber die bestimmen das Bild.“
Bei allem Fahrvergnügen möge man Vision Zero nicht ganz außer Acht lassen, hatte DVR-Präsident Prof. Dr. Walter Eichendorf zu Beginn des Forums gemahnt. Erfreulich hervorzuheben war es für ihn: Fahrerassistenzsysteme stehen bereits bei 95 Prozent der vom Institut für Zweiradsicherheit (ifz) befragten immerhin im Fokus des Interesses. Durch das Programm hatte routiniert Patricia Pantel geführt, auch ein bekanntes TV-Gesicht in der Rolle als Co-Moderatorin vom Autopapst (alias Andreas Keßler, VdM).
Erich Kupfer
Titelfoto: Nach Crash-Tests kam die Unfallforschung der Versicherer zum Schluss: Bei einem Anprall an ein Auto hilft die Schutzkleidung wenig (Foto: UDV)