//Müllers Kolumne: Vertane Chance

Müllers Kolumne: Vertane Chance

Das Bundeskabinett beschloss am 2. Juni das zuvor von Bundesminister Scheuer vorgelegte „Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung 2021 – 2030“.

Die 62 Seiten umfassende Broschüre umfasst allerdings lediglich 39 Seiten fachlichen Text, alles andere sind Gliederung, Impressum und diverse ganzseitige Farbfotos, die oft keinerlei Bezug zum Thema der Broschüre „Verkehrssicherheit“ haben.

Überhaupt stellt sich die Frage, ob eine Broschüre das richtige publizistische Format für ein Verkehrssicherheitsprogramm sein kann, das immerhin einen zeitlichen Rahmen von zehn Jahren inhaltlich begleiten soll. Zur Ehrenrettung der Bundesregierung ist allerdings anzufügen, dass die Inhalte des Paktes für Verkehrssicherheit ergänzend einbezogen wurden (S. 5).
Ein sonst bei herausragenden Werken übliches Vorwort oder zumindest ein Geleitwort einer wichtigen Staatsperson oder einer für die Verkehrssicherheit aufgrund ihrer Verdienste herausragenden Persönlichkeit der letzten Jahrzehnte fehlt jedenfalls.

Die Einleitung – ein Einstieg mit Hindernissen

Als fachliche Einleitung könnte die Seite 3 angesehen werden, wenn sie in ihren mageren fünf Absätzen mehr als Plattitüden enthielte, wie etwa den einleitenden Satz: „Mobilität ist die Grundlage unserer Wirtschaft und Gesellschaft.“ Bezeichnend für die Einstellung dieser Bundesregierung zum Thema der Verkehrssicherheit sind zwei Dinge: erstens, dass die Wirtschaft zuerst genannt wird und zweitens die Verkehrssicherheit im einleitenden Satz gar nicht auftaucht. Dafür begegnet in diesen ersten Zeilen wenigstens das (freilich bislang nicht eingelöste) und schon im Koalitionsvertrag beheimatete Bekenntnis zur „Vision Zero als Leitbild der Verkehrssicherheitsarbeit“. Im gleichen Atemzug brüstet sich die Bundesregierung mit dem tatsächlich nicht zu leugnenden Fakt, dass die Anzahl der Verkehrstoten aktuell „auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Statistik vor mehr als 60 Jahren ist“. Das stimmt zwar, ist aber kein Verdienst dieser Bundesregierung und auch nicht ihrer Vorgänger. Vielmehr sind seither Straßen und Autos technisch sicherer und die Notfallrettung perfekter geworden. Die Anzahl der polizeilich aufgenommenen Verkehrsunfälle ist aber im Wesentlichen gleichgeblieben und der Schutz der schwächeren Verkehrsteilnehmer zu Fuß und auf dem Fahrrad ist gleichbleibend schwach, was immerhin und lobenswert selbstkritisch angemerkt wird.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass der Bundesrat am 25. Juni beschlossen hat, die „Vision Zero“ in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) zu verankern. Die VwV-StVO (VwV steht für Verwaltungsvorschrift) steuert das Handeln der Verkehrsbehörden, sodass diese Verankerung der neuen Zielsetzung deutlich mehr Nachdruck im Verwaltungshandeln (Straßenverkehrsbehörden, Straßenbaubehörden und Polizei) verleiht.
Es bleibt allerdings die Frage offen, an wen sich das vorliegende Programm überhaupt richtet; denn es beinhaltet nach eigenem Bekunden „Maßnahmen des Bundes, mit denen dieser seinen Beitrag zur Umsetzung der gemeinsamen Strategie für die Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland 2021 bis 2030 von Bund, Ländern und Kommunen leistet“. Daher sollte sich ein solches Programm doch wohl in erster Linie an diejenigen Institutionen und Personen richten, die diese Maßnahmen umsetzen sollen. Aber vielleicht erkennen diese sich ja selbst als Adressaten – auch wenn sie nicht ausdrücklich angesprochen werden.

Die Inhalte des Programms – Kapitel eins

Kommen wir zu den fachlichen Inhalten. Die Broschüre gliedert sich in zwei Kapitel.
Im ersten Kapitel betreibt der Bund eine fast esoterisch anmutende Nabelschau seiner zentralen Rolle in der Verkehrssicherheitsarbeit. Eingeleitet wird diese mit einer korrekten Beschreibung einiger die Mobilität beeinflussender Trends, die aber gerade in einem Bundesprogramm unbedingt mit wissenschaftlichen Quellen hätten belegt werden müssen. Dieses Programm gefällt sich jedoch im Gegensatz zu einer notwendigen offengelegten wissenschaftlichen Basis als schlichte Hochglanzbroschüre, die jedoch kaum von den Bürgern gelesen werden dürfte – und die vielen amtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter an den Zielen der Verkehrssicherheitsarbeit benötigen schlichtweg keine Hochglanzbroschüre. Sie benötigen demgegenüber punktgenaue Analysen der Schwachpunkte in der Verkehrssicherheit, klare Handlungsanweisungen zur Behebung der Schwachpunkte und gesetzliche Grundlagen, die ihnen ihre Arbeit ermöglichen und erleichtern.
Als ehrgeiziges Ziel setzt sich die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern und Kommunen, „die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland bis 2030 um 40 Prozent zu reduzieren und die Zahl der Schwerverletzten signifikant senken zu wollen“. Bekanntlich hatte man das gleichlautende Ziel für die letzte Dekade bereits deutlich verfehlt – leider.
Der Bund sieht sich einmal mehr in seiner Rolle als „zentraler Akteur, Initiator und Koordinator“ und man erwartet als Leser, dass dieser Regieanweisung auf den weiteren Seiten die entsprechenden Themen folgen. Als erste Schwerpunkte benennt der Bund die Fahrzeugtechnik (S. 9), Straßeninfrastruktur (S. 10) und die Unfallanalyse (S. 11). Zwei Schwerpunkte, die niemals falsch sind, aber eben auch nicht monokausal wirken.

Das zweite Kapitel…

… ist überschrieben mit „Einzelmaßnahmen des Bundes nach Handlungsfeldern“ und beginnt mit einem Appell an die „Verkehrsteilnehmenden, Verwaltung, Gesetzgeber, Politik auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene und die privaten Akteure der Verkehrssicherheitsarbeit“, also eigentlich an alle (S. 17 ff.).
Wir wissen jedoch, wie derartige „Appelle mit der Gießkanne“ oft im Sande verlaufen, weil zwar alle irgendwie angesprochen werden, sich aber nur sehr wenige angesprochen fühlen und noch weniger diesen Appell, wenn er denn richtig ist, auch in ihre Handlungsmuster überführen.
Immerhin möchte der Bund ab sofort alle zwei Jahre seine Verkehrssicherheitsarbeit evaluieren und zu dieser allerdings wichtigen Kontrollfunktion seinen Unfallverhütungsbericht erweitern. Auf welcher Basis und auf welche Weise sowie durch wen überhaupt evaluiert werden soll? Fehlanzeige. Als weitere Blumen in dem dargebotenen bunten Strauß an Maßnahmen werden Selbstverpflichtungen, Förderhilfen, Vereinbarungen, Gremienarbeit, neue Kommunikationsformen, Fachgespräche, Informationsmaterial und neue Forschungsvorhaben aufgezählt. Alles wichtig, alles richtig, aber irgendwie scheinbar bunt zusammengewürfelt und nicht systematisch geordnet.
Im nächsten Unterkapitel wird versprochen, das geltende Verkehrsrecht so zu reformieren, dass mittels „moderner Verkehrsregeln“ (S. 23) der Verkehr sicherer werden soll. Aber was ist überhaupt „modern“ in diesem Sinne und welche der zahlreichen Rechtsanwender des Verkehrsrechts will man ansprechen? Keine Antwort.
Absolut sinnvoll ist der Ansatz, das Fahreignungsrecht zu reformieren (S. 25), wobei allerdings das sehr dynamische Gebiet der charakterlichen Fahreignung ohne sachliche Begründung ausgespart wurde und auch die Einbeziehung von Experten bei der anstehenden Reform noch etwas nebulös erscheint.
Weitere ausdrücklich behandelte Bereiche sind Zukunftstechnologien, Güterverkehr, Radverkehr, Kinder und Jugendliche, Fußverkehr, Motorradverkehr, Lernen und das Vermindern von Unfallfolgen, jeweils mit treffend formulierten Gedanken, die jedermann guten Gewissens unterschreiben kann, aber nicht ohne Redundanzen in der Argumentation.
Und dann ist Schluss – ohne ein zusammenfassendes Fazit zu ziehen. Nicht einmal eine bestimmte Person aus der Bundesregierung findet sich, dieses Programm mit ihrem guten Namen zu unterschreiben.

Fazit

Wer sich einen ersten Überblick über die staatliche Verkehrssicherheitsarbeit verschaffen will, mag sich diese Broschüre gerne durchlesen.
Verkehrsprofis, also die eigentliche Zielgruppe eines Verkehrssicherheitsprogramms, werden nichts Neues darin finden, sondern vielmehr enttäuscht darüber sein, wie ungeordnet die vielen Themen und durchaus teilweise innovativen Gedanken präsentiert werden.
Erwartet werden konnte eine Ordnung und Priorisierung nach den verschiedenen Bereichen des Straßenverkehrs, also Verkehrsteilnehmende, Verkehrsmittel und Verkehrsraum mit Verkehrstechnik. Dazu gut gepasst hätte eine Orientierung an den Hauptunfallursachen für Verkehrsunfälle mit Getöteten und Verletzten, ergänzt durch eine innovative Verkehrsunfallanalyse, vorbeugende Verkehrsüberwachung und einen moderierten „best practise“ bei der Gesamtschau aller vorgenannten Sicherheitskomponenten. Dabei hätte man zahnradartig die Verknüpfung zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Verkehrssicherheitsarbeit darstellen und sämtliche staatlichen Hierarchieebenen, vertikal und horizontal, abbilden können. Diese Chance wurde trotz eines sicherlich beachtlichen finanziellen Aufwandes allein für das optisch wirklich ansprechende, aber fachlich nur selten passende Layout verpasst.
Als Bachelorarbeit wäre diese Hochglanzbroschüre aufgrund der fachlich chaotischen Präsentation ohne exakte Zielstellung, transparente Methodik und prägnantes Fazit glatt durchgefallen.

Weiterführende Links:
Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung 2021 – 2030
hier klicken

Verankerung der „Vision Zero“ in der VwV-StVO
hier klicken

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht und Verkehrssicherheit.