Nach DVR-Präsident Professor Dr. Walter Eichendorf, Daimler-Truck-Entwicklungschef Sven Ennerst und den Verkehrsrechtsexperten Professor Dr. Dieter Müller konnte der VdM letzte Woche Siegfried Brockmann zum VdM Videotalk „Verkehrssicherheit“ begrüßen.
Brockmann ist VdM-Dieselringträger des Jahres 2019. Er leitet die Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Dort beschäftigt er sich mit der Entstehung und den Folgen von Verkehrsunfällen. Mit ihm haben wir um Tempobegrenzung innerorts und auf Autobahnen diskutiert. Hier einige seiner Aussagen:
Autobahn:
– Deutschland ist in Europa das „gallische Dorf“, der „weiße Fleck“, das auf keine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen setzt
– 70 Prozent der Autobahnen in Deutschland haben generell keine Geschwindigkeitsbegrenzung, rund sechs Prozent sind über Verkehrsbeeinflussungsanlagen gesteuert, die nur temporär eine Geschwindigkeitsbegrenzung vorschreiben
– „Nur“ zwölf Prozent der bei Verkehrsunfällen Getöteten kommen von der Autobahn – was bei vielen Gegnern einer Tempobegrenzung signalisieren soll, dass hier weniger Handlungsbedarf bestünde
– Aber: Auf Autobahnen haben wir keine Kreuzungen, Gegenverkehr etc. Gemessen daran sind zwölf Prozent (356 Tote im Jahr 2019) wieder viel
– 115 Menschen davon starben bei Unfällen auf nicht geschwindigkeitsbeschränkten Strecken, circa 45 davon kamen vermutlich nicht aufgrund zu hoher Geschwindigkeit, sondern durch Unachtsamkeit bei Nebel, Regen, Schnee etc. ums Leben
– Eine Untersuchung von 484 Unfällen auf Autobahnen hat gezeigt, dass davon 176 auf Abschnitten ohne Geschwindigkeitsbegrenzung passiert sind, 73 davon bei einer Geschwindigkeit über 130 km/h
– Die Forschungslage zum Tempo 130 km/h auf Autobahnen sehr schlecht
– Politische Lager: CDU/CSU, FDP und AfD lehnen Tempolimit ab, SPD, Grüne und Linke befürworten ein solches
Innerorts:
– 70 Prozent aller schweren Unfälle mit Fußgängern passieren mit einer Geschwindigkeit unter 50 km/h, mit Radfahrern sind es nur elf Prozent
– Beim Radfahrer zwei dominierende Unfallarten: Abbiegeverkehr und durch geöffnete Fahrertüren – beides mit Tempo deutlich unter 50km/h beziehungsweise im Stand
– 37 Prozent der getöteten und schwer verletzten Fußgänger wurden von anfahrenden Lkw erfasst
– Straßenverkehrsbehörden haben nur eingeschränkt Möglichkeiten, Tempo 30 in Ortschaften anzuordnen, nur unmittelbar vor Gefahrenstellen, wie zum Beispiel Kindergärten, nicht aber präventiv, um eventuelle Gefahren zu vermeiden
– Aus Immissionsschutzgründen ist eine Tempobegrenzung viel leichter umsetzbar
– Wenn Tempo 30 die Regel würde, würden auch viele warnende Schilder entfallen
Lösungen:
– Grobe Geschwindigkeitsüberschreitungen dürfen sozial nicht akzeptiert sein, Überwachung und Strafen müssen drastisch verschärft werden
– Technische Lösungen könnten das Problem der Geschwindigkeitsübertretung mindern, Stichwort ISA (Intelligent Speed Adaptation), das durch Navigationsdaten und Verkehrszeichenkamera Geschwindigkeiten erkennt und deutlich davor warnt
– Industrie behauptet allerdings, 30 Prozent der Verkehrszeichen könnten nicht erkannt werden, Zweifel daran sind aber angebracht
– Ein Großversuch würde die Diskussion um eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen versachlichen, wird aber wohl durch die aktuelle politische Entwicklung (Wahlen im September) eingeholt. Denn: Mit einem grünen Verkehrsminister werden wir Tempo 130 km/h auf Autobahnen bekommen
– Ein Großversuch müsste ebenso klären, wie sich Tempo 30 innerorts auswirkt, welche Geschwindigkeiten überhaupt gefahren werden und wie die Akzeptanz sei
– Aus Forschersicht steht außer Frage: Die Höchstgeschwindigkeit hat einen Einfluss auf die Unfallschwere, aber spannend könnte auch sein, ob andere Tempolimits, auf Autobahnen, ebenso einen Einfluss haben könnten
Den kompletten VdM Videotalk „Verkehrssicherheit“ mit Siegfried Brockmann finden Sie hier
(bic)
Fotos: Bicker