//Die schwächsten Verkehrsteilnehmer besser schützen

Die schwächsten Verkehrsteilnehmer besser schützen

Was sind die „Herausforderungen für die Verkehrssicherheit in der nächsten Dekade“, fragte Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer (UDF), bei der Fachtagung der Dieselringträger, die im Dezember diesen Jahres erstmals zusammen mit der Jahrestagung des DVR in Bonn stattfand.

Die Ziele, die sich die Bundesregierung in ihrem Verkehrssicherheitsprogramm für die Dekade von 2001 bis 2010 mit einer Verringerung der Getöteten im Straßenverkehr um 50 Prozent vorgenommen hatte, wurden noch weitgehend erfüllt. Nach 6.977 in 2001 waren in 2010 „nur“ noch 3.648 Getötete zu beklagen. Das Ziel jedoch die Verkehrstoten in der folgenden Dekade bis 2020 um nochmals 40 Prozent auf 2.189 Getötete zu reduzieren, werde wohl verfehlt werden, urteilte der VdM-Dieselringträger des Jahres 2019 zu Beginn seines Vortrags in Bonn. Zwar hatte das Statistische Bundesamt gerade aus den Daten bis September für das Gesamtjahr hochgerechnet, dass mit 3 090 Getöteten im Straßenverkehr ein neuer Tiefstand erreicht werden könne, ob der aber tatsächlich erreicht werde, sei noch fraglich. In jedem Fall, so Brockmann, müsse jetzt aber das Verkehrssicherheitsprogramm für die nächste Dekade bis 2030 fortgeschrieben werden. Dabei wäre eine weitere Reduzierung um 30 Prozent ein wünschenswertes Ziel. 

„Wo sind die Potentiale, die etwas bringen“, fragte er. Unbestritten ist, dass Unfälle von den Fahrern verursacht werden. Technische Fehler sind heute im Unfallgeschehen kaum noch relevant. Bringt also das Autonome Fahren die Lösung? „Die Maschine muss besser als der Fahrer sein“, und das ist eine hohe Hürde. Denn: „Der Mensch verursacht alle 3,1 Millionen Kilometer ein Unfall mit Personenschaden oder alle 224 Jahre.“ Das ist der Benchmark für autonomes Fahren. 

Unfallschwerpunkt Baumallee

Schwere Unfälle mit Personenschäden, das zeigt die Statistik, passieren vor allem auf Landstraßen. 57 % der Getöteten kamen 2018 hier ums Leben (Innerortsstraßen 30 %, Autobahnen 13 %). Bei knapp einem Viertel der auf Landstraßen Getöteten handelte es sich um „Baumunfälle“. Besonders dramatisch ist das Bild in den ostdeutschen. Bundesländern, wo etwa in Brandenburg über die Hälfte und in Sachsen knapp die Hälfte der Getöteten nach Aufprall auf einen Baum sterben. Die Dramatik dieses Unfallgeschehens machte Siegfried Brockmann mit dem Film eines Crashversuchs deutlich. Beim sogenannten „Pfahlaufprall“, seitlich mit 97 km/h wurde der Pkw durch den Pfahl praktisch durchgeschnitten und völlig zerstört. Die Insassen haben bei einer solchen Unfallsituationen kaum Überlebenschancen. „Wo Bäume am Landstraßenrand stehen ist 100 km/h zu viel“, urteilte dann auch Unfallforscher Brockmann. Darüber hinaus seien in aller Regel auch Unfallschwerpunkte bekannt. Die gelte es zu entschärfen, eventuell auch mit Geschwindigkeitsbeschränkungen, die dann aber auch kontrolliert werden müssen. 

100 Prozent Gurtanlegequote = 180 Verkehrstote pro Jahr weniger

Dass der Sicherheitsgurt ein wichtiger Lebensretter bei einem Unfall ist, wissen die meisten Autofahrer. So liegt die Anschnallquote bei uns zwischen 97 Prozent bei den Fondinsassen und 99 Prozent bei den Beifahrern. Fahrer schnallen sich zu 98 Prozent an. Dennoch waren 25 Prozent der getöteten und zehn Prozent der schwer verletzten Pkw-Insassen nicht angeschnallt. „Etwa die Hälfte von ihnen hätte durch den Gurt überlebt oder wäre weniger schwer verletzt worden.“ Beim Vergleich mit den Unfallzahlen von 2017 errechnen sich daraus beeindruckende Zahlen. Bei 100 Prozent Anschnallquote wäre demnach 180 Menschen vor dem Tode und 1.475 vor schweren Verletzungen bewahrt worden. Es wäre daher sinnvoll, technische Maßnahmen einzuführen, die sicher erkennen, dass die Fahrzeuginsassen angeschnallt sind. Derzeit lässt sich die Gurterkennung noch zu einfach durch Gurtschlösser ohne Gurt überlisten. 

Wo weitere Potentiale liegen, die Zahl der Unfälle mit gravierenden Personenschäden zu reduzieren, zeigt ebenfalls der Blick auf die Statistik: bei den „ungeschützten Verkehrsteilnehmern“. Während die Zahl der getöteten Kfz-Insassen in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken ist, stieg die der im Straßenverkehr getöteten Fußgänger, Rad-, Moped- und Motorradfahrer ebenso kontinuierlich an. Und auch bei den Schwerverletzten bewegen sich die Kurven – zwar weniger deutlich – auseinander. 

Schwere Motorradunfälle stehen in keinem Verhältnis zur Fahrleistung

Besonders dramatisch ist das Unfallgeschehen bei den motorisierten Zweirädern. „Die Unfälle mit Getöteten stehen hier in keinem Verhältnis zur Fahrleistung“, so Brockmann. 2018 lag die Rate der Getöteten/Mrd km bei den Motoradfahrern um den Faktor 21,5 höher als bei den Pkw-Insassen. Wenn an Ostern oder Pfingsten das Wetter gut oder der Oktober durchgehend trocken ist, dann gebe es 50 bis 60 mehr getötete Motorradfahrer. Dabei sind etwa die Hälfte der Motoradunfälle Alleinunfälle. Zweifellos könne die Infrastruktur und die Sichtbarkeit der Motoradfahrer weiter verbessert werden, auch Assistenzsysteme seien hilfreich, vor allem aber müsse mit den Motoradfahrern selbst gearbeitet werden. In Fahrsicherheitstrainings etwa könne das Gefahrenbewusstsein geschärft und Kompetenzen entwickelt werden, sich aus schwierigen Fahrsituationen zu befreien. 

Die Radfahrer selbst beeinflussen maßgeblich das Unfallgeschehen

„Auch der Radverkehr koppelt sich beim Unfallgeschehen immer mehr vom allgemeinen Trend ab“, berichtete Siegfried Brockmann. Die Zahl der Unfälle mit Personenschäden nimmt sogar zu und die der Getöteten unter den Radfahrern nimmt weniger stark ab als im gesamten Verkehr. In der Öffentlichkeit diskutiert werden derzeit vor allem die meist besonders dramatischen Abbiegeunfälle mit Lkw. Abbiegeassistenten sollen diese Gefahr verringern. Dabei dürfe man allerdings nicht alle anderen tödlichen Fahrradunfälle aus dem Blick verlieren. Bei Abbiegeunfällen kommen pro Jahr 25 bis 30 Radfahrer ums Leben, insgesamt aber werden jährlich über 440 Radfahrer getötet. Und auch hier sind es die Radfahrer selbst, die das Unfallgeschehen maßgeblich beeinflussen. „Jeder vierte getötete (28 %) und jeder dritte schwerverletzte Radfahrer (35 %) ist auf einen Alleinunfall zurückzuführen“, erläutert Brockmann aus den Daten von 2018. „Zwei Drittel der getöteten (65 %) und schwerverletzten (63 %) Radfahrer gehen auf Unfälle zurück, die Radfahrer verursachen (inkl. Alleinunfälle.) Das heißt, Radfahrer können durch vorsichtigere und regelkonforme Fahrweise viel selbst tun, um ihr Unfallrisiko zu verringern. 

Zwei Aspekte kommen allerdings hinzu: Zum einen gibt es „seit Jahren eine starke Zunahme verunglückter Radfahrer im Seniorenalter“. Wenn Sie in einen Unfall verwickelt werden ist ihr Verletzungsrisiko höher, zudem sind sie weniger „ausweichflexibel“. Zum anderen steigen die Unfallzahlen mit Pedelecs. So sei deren Bestand zwischen 2017 und 2018 um 20 Prozent gewachsen. Die Zahl der Unfälle mit Pedelecs ist aber um mehr als 50 Prozent gestiegen. Oft kommt beides zusammen: Ermöglichen doch gerade Pedelcs Senioren, wieder auf zwei Rädern mobil zu sein. So ist auch gerade bei den über 65-jährigen der Fahrunfall mit unangepasster Geschwindigkeit der größte Unfalltyp.

Aber nicht nur Senioren auf dem Fahrrad sind gefährdet. Während in allen Altersklassen die Zahl der im Straßenverkehr Verunglückten seit 30 Jahren kontinuierlich gesunken ist, ist die Zahl der verunglückten über 65-Jährigen um fast 60 Prozent gestiegen. So liegt auch der Anteil der Senioren als Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschäden vor allem beim Pkw, aber auch bei den Zweirädern über dem Durchschnitt. Auch wenn man das Unfallrisiko für Unfälle mit Getöteten auf die Pkw-Fahrleistung bezieht, dann haben die 18- bis 20-Jährigen ein hohes Risiko, das im Laufe des Lebens stark sinkt, um bei den über 75-Jährigen wieder fast den Wert der Fahranfänger zu erreichen. Dank der demografischen Entwicklung werden künftig immer mehr Ältere als Autofahrer am Straßenverkehr teilnehmen. Und unter den künftigen Senioren sind auch immer mehr Frauen, die den Führerschein besitzen und denen Mobilität mit eigenem Auto ebenso wichtig ist. Die Unfallzahlen könnten also weiter steigen.

„Rückmeldefahrt“ für die über 75-Jährigen

„Wie gut sie fahren, wissen ältere Senioren in der Regel nicht. Und die Angehörigen sind überfordert, ihnen Defizite aufzuzeigen“, sagt Siegfried Brockmann. Er schlägt deshalb eine Rückmeldefahrt vor, die Autofahrer ab 75 regelmäßig machen sollten. Im Gegensatz zu einer aufwändigen und teuren MPU reicht dafür eine Fahrstunde, die dann vielleicht 80 Euro kostet. Verkehrspsychologen, Fahrprüfer der Überwachungsorganisationen oder auch speziell geschulte Fahrlehrer könnten diese Rückmeldefahrt durchführen, bei denen die Senioren in ihrem eigenen Auto beim Fahren beobachtet werden. Anschließend erhalten sie eine Rückmeldung zu ihrem Fahrverhalten. „Allein schon durch diese Rückmeldung wird sich das Fahrverhalten verbessern“, ist Brockmann überzeugt. Derzeit gibt es jedoch keine konkreten Pläne, eine solche Rückmeldefahrt einzuführen. 

Die schwächsten Verkehrsteilnehmer sind schließlich die Fußgänger. Hier sind die Jungen, die sechs- bis 15-Jährigen, und die Älteren, die über 65-Jährigen besonders gefährdet. Hauptproblem ist hier der „Überschreiten-Unfall“, also das Überqueren einer Straße. Als Fußgänger kommt es dabei aufs zügige Überqueren an. Für manchen Senior ist das ein Problem. „Und auch der Weg 300 Meter bis zur nächsten Ampel und dann die gleiche Strecke auf der anderen Straßenseite wieder zurück ist für viele Senioren eine Herausforderung.“ Hier hat der Städtebau eine wichtige Aufgabe zu ermitteln, wo die Fußgängerströme verlaufen und dort für sichere Straßenquerungen zu sorgen. Und auch hier gilt: Für Fußgänger ist die Sichtbarkeit lebenswichtig. Denn die meisten Unfälle mit Fußgängern ereignen sich in den dunklen Monaten des Jahres im frühen Frühjahr, im Spätherbst und im Winter. 

Statistikauswertungen und Unfallforschung zeigen eine Vielzahl von Stellschrauben auf, mit denen sich die Verkehrssicherheit erhöhen und die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten reduzieren lassen. Dabei zeigen oft einfache, unspektakuläre Maßnahmen deutliche Wirkung.  Das machte der Vortrag von Unfallforscher Siegfried Brockmann einmal mehr deutlich.

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Titelfoto: UDV