Eine Polemik von Erich Kupfer
Nehmen wir einmal an, Sie schauen aus dem Fenster und zählen die Autos, die vor dem Haus auf der Straße parken, und es sind deren drei. Stellen Sie sich denselben Blick im Jahr 2040 vor. Dann sehen Sie nach der Vision des Umweltbundesamtes (UBA) das Automobil im Singular, und sein Kennzeichen endet auf „E“. Zwei Drittel des Pkw-Bestandes in der Stadt hätten sich in Luft aufgelöst.
UBA für 2040: „In der Stadt fahren deutlich weniger Autos als heute, die effizient genutzt werden, weniger Fläche beanspruchen und überall mit regenerativem Strom aufgeladen werden können. Als Ziel gilt ein Motorisierungsgrad von maximal 150 zugelassene Pkw pro 1000 Einwohner inklusive Carsharing und Taxifahrzeugen.“ In einem solchen Szenario ist mehr Platz geworden für die Menschen. Radfahrer sind unterwegs, Fußgänger flanieren. Das ist von Haus aus nicht schlecht, die Qualität der Luft steigt, der durchschnittliche Body-Mass-Index der Einwohnerschaft sinkt. Weniger zu begrüßen dagegen ist es, dass sich möglicherweise hier etliche freigesetzte Mitarbeiter der deutschen Automobil- und Zulieferindustrie im Freizeitmodus bewegen.
Die Referenzzahl 150 des Umweltbundesamtes bezieht sich auf Großstädte mit 100.000 Einwohnern aufwärts, wo knapp ein Drittel der Menschen in Deutschland lebt, das heute im Schnitt 450 Autos pro 1.000 Einwohner Autos hat. Bundesweit beträgt der Wert 570 pro 1.000, was einen Gesamtbestand von 47 Millionen Pkw bedeutet. Es betreiben demnach heute 26 Millionen Großstädter knapp zwölf Millionen Pkw. Da auch das natürliche Ende eines Autolebens (circa halbe Million per anno) in zwei Jahrzehnten für einen Rückgang von 2,6 Millionen Einheiten sorgt, müssen jährlich insgesamt bald 500.000 Einheiten in diesen Städten über die natürliche Fluktuation hinaus weg.
Sollte nun das Niveau der jährlichen Neuzulassungen auf dem heutigen Niveau von 3,5 Millionen erst einmal bleiben (wofür die Zunahme des Bestandes in den letzten fünf Jahren um eben diese Größenordnung spricht), käme in den genannten Städten in dem Zeitraum eigentlich eine Million hinzu und der Entsorgungsdruck erhöhte sich auf gut eineinhalb Millionen per anno – werktäglich für zwei Jahrzehnte beinahe 5.000 Autos. Was für Zeiten kommen dann auf die Automobil- und Zulieferindustrie zu, Motor der deutschen Wirtschaft und maßgeblich am Wohlstand einschließlich des Generierens der Gelder für Transferleistungen beteiligt? Zu jenen gehörte dann auch – nach Verkehrsminister Scheuer – der kostenlose Strom für die Autos der Geringverdiener. Schon heute rechnet Volkswagen mit demnächst bis zu 7.000 Stellen weniger, bei Ford ist aktuell von 5.000 die Rede, Opel hat über 3.700 abgebaut – um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Zulieferer wie Leoni meldet 2.000 Menschen zu viel an Bord.
Offenbar hat der Verband der Automobilindustrie seine Zerreißprobe überstanden, zugunsten der Forderung von VW für mehr Einsatz für das E-Auto, während BMW und Mercedes einer technologieoffenen Zukunft etwas abgewinnen können. Mit VW-Diess einig ist Andy Scheuer, der bereits 2030 zehn Millionen E-Autos in Deutschland unterwegs sehen will. Nicht nur, dass Elektromotoren und der Entfall der Getriebe weitaus weniger Arbeitskräfte erfordern: Der Akku, der ein Drittel der Wertschöpfung ausmacht, stammt aus Asien und schafft dort Arbeit. Man könnte freilich in den Automobilfabriken einem kleinen Teil der heute dort Beschäftigten das Ausschlachten der stillgelegten Autos überlassen.
Dass oft breite Schneisen für die Motorisierung in den Städten von heute den Fahrrad- und Fußgängerverkehr benachteiligen, ist keine neue Erkenntnis. Zum noch spürbaren Primat des Automobils in der Straßenverkehrsordnung ist anzumerken, dass dieses Regelwerk zeitlich parallel zum Wiederaufbau zerstörter Städte und der Wirtschaft entstand. Da war das Auto Vehikel in mehrfacher Hinsicht, als Transportmittel und in der Rolle als bedeutender Wertschöpfungsfaktor in wieder anlaufenden Fabriken. Das notwendige Tempo jener Jahre hätte der Fahrradfahrer oder Fußgänger nicht erreicht.
Je mehr der Diskurs ideologisch befrachtet ist – und dies ist insbesondere in Bereichen wie der Sozial- oder der Verkehrspolitik zu beobachten -, umso spürbarer ist die Neigung, Wirkungsketten zu vernachlässigen. Im Szenario Verkehr bedeutet neue urbane Mobilität der kurzen Wege für Radler und Fußgänger beispielsweise auch ein neues Wohnen. Wer sein Eigenheim am Stadtrand schätzt – oder wegen immer höherer Mieten in zentralen Lagen in eine periphere Wohnung gentrifiziert wurde – und daher mit dem Auto pendeln muss, ist hier nicht zu integrieren. Nicht alle können in der großen Stadt leben, über sieben Millionen Deutsche sind in Ortschaften mit bis zu 2000 Einwohnern teils weit vom Zentrum zu Hause.
Im Kern der Städte folgt Verdichtung, sicherlich auch in die Höhe. Lange Wege entfallen, Spa, Arzt, Einzelhandel und Gastronomie – alles in der Nähe. Der neue Städter fährt mit dem Lift runter ins Erdgeschoss und besorgt sich im dortigen Supermarkt, was er für den Kühlschrank braucht. Eine Tür weiter lädt der vegane Döner zum schnellen Imbiss ein. Ungeklärt ist freilich, wie viele Lastenfahrräder den Lkw substituieren müssen, der immer den Edeka- oder Rewe-Markt täglich dieselnd beliefert hat.
Wird der urbane Hipster des Jahres 2040 dann per Leihfahrrad zum nächsten Einsteigepunkt des ÖPNV kommen, der ihn dann zum Flughafen bringt? Als wahrscheinlich kann gelten, dass es in zwei Jahrzehnten nach Einschätzung der International Air Transport Association (IATA) doppelt so viele Passagiere gibt wie heute. Da trotz des grandiosen A 380 offenbar der Versuch gescheitert ist, mehr Menschen in größeren Flugzeugen pro Destination befördern zu können, bedarf es eines Zuwachses um mehr als des Doppelten bei dann kleineren Fliegern. Damit kann man es sich eigentlich schenken, um die paar Prozent rauf oder runter bei Braunkohlestrom zum Antrieb der E-Mobile zu diskutieren.
PS: Auch das ist wahr: Aktuell sind knapp 1.400 neue Kohlekraftwerke in 59 Ländern in Planung oder sogar schon im Bau. Muss man das Schulschwänzen am Freitagvormittag als solches unter Umständen doch nicht kritisieren?
Erich Kupfer
Foto: DVR