//Müllers Kolumne: Nehmt Rücksicht!

Müllers Kolumne: Nehmt Rücksicht!

Wer aus dem eigenen Auto heraus ein Kind am Straßenrand sieht, muss langsamer werden. Warum? Weil ein Kind jederzeit auf die Fahrbahn rennen und vor das eigene Auto laufen könnte. Allein diese Möglichkeit zwingt jede Fahrerin und jeden Fahrer, natürlich auch Radfahrerinnen und Radfahrer, ihre Geschwindigkeit zu reduzieren. Utopie? Nein, sondern geltendes Verkehrsrecht, das in § 3 Abs. 2a der StVO so zu finden ist. Wird dies von allen Fahrerinnen und Fahrern praktiziert? Wohl kaum; denn viele kennen diese Grundregel der Rücksichtnahme nicht einmal. Woran das wohl liegt? Tatsächlich sind es oft pure Ignoranz und Egoismus, negative Charaktereigenschaften, die das Klima in unserem Straßenverkehr vergiften. Liegt der Grund in bloßer Unwissenheit, ist es fast ebenso schlimm; denn der Grund ist ziemlich egal, weil das Ergebnis gleich ist: Kinder werden durch das Verkehrsverhalten anderer potenziell gefährdet!

Die Basis: Grundregeln

Jeder Autofahrerin und jeder Autofahrer musste diese Grundregeln erlernen, bevor sie oder er ihren Führerschein erworben hat:
§ 1 StVO – Grundregeln
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

Es ist eine Vorschrift mit doppelter Appellfunktion. Zunächst erfolgt der Eigenappell: Als Verkehrsteilnehmerin und Verkehrsteilnehmer muss ich im Straßenverkehr ständig vorsichtig sein, also achtsam in meinem eigenen Verhalten und vorsichtig im Verhalten gegenüber anderen. Der zweite Appell betrifft mein Sozialverhalten im Straßenverkehr. Rücksichtsvoll sollen wir miteinander umgehen, uns fehlerverzeihend und defensiv verhalten, besonders gegenüber schwächeren Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmern. Würden diese beiden Grundregeln von allen praktiziert, dürfte es keine Verkehrsunfälle und keine Verkehrsunfallopfer geben. Da es sie dennoch gibt, müssen wir konstatieren, dass sich Sand im Getriebe des Straßenverkehrs befindet, der dort nicht hingehört und entfernt werden muss, damit das System geschmeidig funktionieren kann.

Der Teaser: Kinder im Straßenverkehr

Kinder machen Fehler. Aus Fehlern lernt man. Fehler im Straßenverkehr können tödlich sein. Daher wird das Gebot zur Rücksichtnahme im Straßenverkehr gegenüber Kindern und zusätzlich gegenüber hilfsbedürftigen und älteren Menschen nochmals verfeinert.

§ 3 – Geschwindigkeit
(2a) Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.

Immer dann, wenn wir als Fahrerinnen und Fahrer in unserem Fahrweg einer Person begegnen, die auf den ersten Blick ersichtlich aus einer dieser besonders schützenswerten Gruppen stammt, müssen wir zwei zwingenden Geboten folgen:
1. Langsamer fahren
2. Bremsbereit sein

Praktizieren Sie konsequent diese beiden Regeln? Achten Sie bei Ihrem Verkehrsverhalten überhaupt besonders auf Kinder und hilfsbedürftige und ältere Menschen? Sind Sie also die erhofften Vorbilder für ein soziales Verkehrsverhalten?
Wer übrigens möchte, dass die eigenen Kinder oder Enkelkinder sich im Straßenverkehr so verhalten, dass sie nicht verletzt oder gar getötet werden, schiebt die Verkehrserziehung nicht auf die Pädagoginnen und Pädagogen in Kindergarten und Grundschule, sondern beginnt damit selbst, und zwar schon durch bewusste und kindgerecht erklärende Spaziergänge im Straßenverkehr. Wer sich dann allerdings nach einem Rollenwechsel am Steuer des Fahrzeugs wie die berühmte „Axt im Walde“ verhält, Verkehrsregeln missachtet und sich aggressiv und fluchend durch die anderen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer bewegt, muss sich später nicht darüber wundern, dass die eigenen Kinder sich dieses „Vorbild“ zu eigen machen und sich und andere potenziell gefährden.

Exemplarisch: Die Wartepflicht beim Abbiegen

Wer als Fußgängerin und Fußgänger auf städtischen Straßen unterwegs ist und an einer Einmündung die Fahrbahn überqueren möchte, kann regelmäßig beobachten, dass man besser darauf verzichtet, die Fahrbahn zu überqueren, wenn sich ein Auto nähert und zum Abbiegen ansetzt; denn die allermeisten Fahrerinnen und Fahrer werden nicht anhalten, sondern zügig abbiegen, und zwar deshalb, weil sie die folgende Regel ignorieren:

§ 9 StVO – Abbiegen, Wenden Rückwärtsfahren
(3) Wer abbiegen will, muss entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen, Schienenfahrzeuge, Fahrräder mit Hilfsmotor, Fahrräder und Elektrokleinstfahrzeuge auch dann, wenn sie auf oder neben der Fahrbahn in der gleichen Richtung fahren. Dies gilt auch gegenüber Linienomnibussen und sonstigen Fahrzeugen, die gekennzeichnete Sonderfahrstreifen benutzen. Auf zu Fuß Gehende ist besondere Rücksicht zu nehmen; wenn nötig, ist zu warten.

Diese Wartepflicht ist immer nötig, wenn eine Fußgängerin oder Fußgänger den ersten Fuß auf die Fahrbahn gesetzt hat, um diese zu überqueren. Wer dann noch abbiegt, verletzt diese Schutzpflicht, und zwar ganz bewusst; denn, wer Augen hat, sieht diese Person und nimmt ihre Absicht, die Fahrbahn zu überqueren, bewusst wahr – und ignoriert diese, schimpft oft sogar, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Rücksichtslosigkeit pur! Wer also als Fußgängerin oder Fußgänger in einer solchen Situation überleben will, bleibt sofort stehen oder besser, weicht sogar ein Stück weit zurück. Das berühmte „Recht des Stärkeren“ obsiegt, der Schwächere ist der Loser. Das müsste zwar nicht so sein, beherrscht aber den Alltag im Straßenverkehr und wird allgemein hingenommen.

Die Fehlerkorrektur: Kontrolle, Bußgeld und Punktsystem

Und dabei gäbe es ein gut durchdachtes und in der Theorie perfekt funktionierendes System der Fehlerkorrektur im Straßenverkehr, das auf den folgenden drei Stufen beruht:
1. Kontrolle korrekten Verkehrsverhaltens
2. Ahndung von sozialschädlichem Fehlverhalten
3. Korrektur von Fehleinstellungen
Allerdings bestehen deutliche Lücken in der Anwendung dieses Systems. Es gibt viel zu selten Kontrollen, nachfolgend zu wenig Ahndungen und am Ende der Kette fallen dann auch noch die notwendigen Korrekturangebote aus.

Stichwort: Kontrolle

Die Polizei schafft es aufgrund ihrer personellen Unterbesetzung in den Städten und Gemeinden schon seit vielen Jahren nicht mehr, die oben genannten Schutzvorschriften zu überwachen, bevor es zu Risikosituationen kommen kann. Regelmäßig fährt sie erst zu Verkehrsunfällen los. Vorbeugendes Handeln? Fehlanzeige!
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der kommunalen Vollzugsdienste wird von unserer Rechtsordnung nicht einmal das Recht zugebilligt, Fahrerinnen und Fahrer vorbeugend anzuhalten, um deren Verhalten zu kontrollieren. Sie müssen regelmäßig erst abwarten und dürfen Fahrerinnen und Fahrer erst dann anhalten, wenn sie einen Verkehrsverstoß gesehen haben und selbst dann wenden sie in den meisten Kommunen mangels Vorbildung in Theorie und Praxis die vorhandenen Rechtsgrundlagen der §§ 163b Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Ordnungswidrigkeitesgesetzt (OWiG) nicht an.
Den Tausenden Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei, die ebenfalls tagtäglich mit ihren Streifenwagen im Straßenverkehr unterwegs sind, wird nicht einmal per Gesetz das Recht zur Verkehrsüberwachung und Kontrolle übertragen, wenn sie auf Rechtsbrecher im Straßenverkehr stoßen.
Wenn das Verkehrsverhalten allerdings nicht kontrolliert wird, besteht kein Anlass zu Veränderungen und schlechte Verkehrsgewohnheiten schleifen sich ein.

Stichwort: Ahndung

Auch hinsichtlich der Ahndung von Verkehrsverstößen existieren bedenkliche Lücken in der Anwendung geltenden Rechts.
Die beiden Säulen der Ahndung sind die Verwarnung und der Bußgeldbescheid.
Als gering eingestuftes Fehlverhalten kann mit Verwarnungsgeldern von 5 bis 55 Euro schnell und ohne ein aufwändiges schriftliches Verfahren sofort vor Ort des Geschehens erledigt werden. Bei verständigen und einsichtigen Täterinnen und Tätern genügt manchmal sogar ein mündlicher Hinweis auf das Fehlverhalten.
Ist das Fehlverhalten schwerwiegender, was im Bußgeldkatalog durch Geldbußen ab 60 Euro und mehr sichtbar ist, muss ein schriftliches Verfahren durchgeführt werden.
Verwarnungsgelder und Bußgelder müssen dabei in ihrer Höhe speziell auf die entdeckten Verstöße zugeschnitten werden, das heißt, wer intensiver verstößt oder wem ein geringes Bußgeld finanziell nicht weh tut, zahlt auch mehr. Das Recht dafür gibt es bereits.
Fahrverbote sind übrigens erfahrungsgemäß die besten, weil in ihrer Wirkung von einem bis zu drei Monaten andauernden Gedächtnisstützen.

Wer sich allerdings nach einem zugesandten Beweisfoto plötzlich nicht mehr daran erinnern kann, wer die Person auf dem Foto ist, die mit dem eigenen Auto bei rot gefahren, zu schnell gefahren oder gedrängelt hat, erhält viel zu selten überhaupt einen Bußgeldbescheid oder muss ein Jahr lang ein Fahrtenbuch führen und dieses regelmäßig vorlegen. Und die Gebühren für diese eingestellten Verfahren zahlt dann auch noch der Staat. Lügen haben eben doch nicht immer kurze Beine.
Wessen Fehlverhalten allerdings gar nicht erst entdeckt wird, dessen Ahndung unterbleibt. Glück gehabt!

Stichwort: Korrektur

Der Straßenverkehr ist als ein soziales und verkehrspädagogisches System konstruiert worden. Für ein gefährliches Fehlverhalten gibt es von einem bis zu drei Punkten in der Flensburger „Verkehrssünderkartei“ des Kraftfahrt-Bundesamtes. Beim Erreichen von 4 Punkten gibt es eine gelbe Karte, bei 6 Punkten gibt es – anders als im Fußball – eine zweite gelbe Karte und erst bei 8 Punkten gibt es die rote Karte in Form der Entziehung der Fahrerlaubnis. Das vorgenannte System gilt übrigens 1:1 auch für alle ausländischen Fahrerinnen und Fahrer, die auf deutschen Straßen unterwegs sind.
In schwierigen Fällen bei offenkundigen charakterlichen Mängeln sieht unser System sogar eine verkehrspsychologische Beratung durch die gut 300 Verkehrspsychologinnen und -psychologen vor, die aktuell jedoch nur als ein unverbindliches Angebot konstruiert ist, das zu nahezu 100 Prozent von denjenigen ausgeschlagen wird, die es eigentlich bräuchten.
Der diesem System für Verkehrssünderinnen und -sünder institutionell vorgeschaltete Verkehrsunterricht aus § 48 StVO wird übrigens deutschlandweit so gut wie nirgendwo angeboten – ein behördliches Trauerspiel, für das die kommunalen Straßenverkehrsbehörden die Verantwortung tragen.
Sie ahnen es schon: Wenn es in unserem System schon bei der notwendigen Kontrolldichte hapert, eine notwendige Ahndung daraufhin zwangsläufig unterbleibt, werden für die vorhandenen Fehleinstellungen auch keine Punkte verteilt und die notwendige Fehlerkorrektur fällt auch aus.

Fazit. Was ist zu tun?

Die Basis der Kontrolle muss gestärkt werden. Die Polizei muss speziell in Verkehrskontrollen mehr Personal einsetzen und/oder dieses erhalten. Kommunen muss das Recht zugebilligt und die Fähigkeit ausgebildet werden, Fahrerinnen und Fahrer aus dem fließenden Verkehr heraus anzuhalten und deren Fehlverhalten zu ahnden. Die Bundespolizei muss auch Verkehrsverstöße feststellen und eigenständig ahnden dürfen.
Ahndungen müssen konsequent und in der richtigen Höhe zeitnah nach dem Verstoß erfolgen. Fahrverbote dürfen nicht so oft durch ein erhöhtes Bußgeld abgekauft werden können. Fahrtenbücher sollten obligatorisch bei jedem Verstoß angeordnet werden, wenn ein durch gefährliches Fehlverhalten einzutragender Punkt nur deswegen nicht eingetragen werden kann, weil sich der Fahrzeughalter „nicht mehr erinnern kann“, wer mit dem betreffenden Auto gefahren ist.
Der Verkehrsunterricht muss institutionell wiederbelebt und durch auskömmliche Gebühren ermöglicht werden, sodass Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer als Gedächtnisstützen für „vergessliche“ Verkehrssünderinnen und -sünder dienen können.
Die verkehrspsychologische Beratung muss von Fahrerlaubnisbehörden verbindlich angeordnet werden dürfen und bei Ausschlagen dieses Angebots müssen Punkte eingetragen werden.
Das System Straßenverkehr krankt an mangelhafter personeller und fachlicher Konsequenz. Alle Rechtsnormen sind vorhanden. Sie müssen nur praktisch angewendet werden.
Apropos Rücksicht: Unser System nimmt aktuell nur Rücksicht auf die Täterinnen und Täter, die Opfer haben keine Lobby.

Weiterführende Links
§ 1 StVO – Grundregeln
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§ 3 StVO – Geschwindigkeit
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§ 9 Abs. 3 StVO – Abbiegen
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Bußgeldkatalog
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Punktsystem
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Anlage 13 der Fahrerlaubnis-Verordnung
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Verkehrsunterricht gemäß § 48 StVO
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Polizeiliche Mitteilungspflichten an Fahrerlaubnisbehörden
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Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.

Foto: Mircea Iancu/Pixabay