//Müllers Kolumne: Anzeige als Selbsthilfe

Müllers Kolumne: Anzeige als Selbsthilfe

Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sehen sich als Fußgängerinnen und Fußgänger in ihrem Wohnumfeld dem Problem gegenüber, dass die ihnen vom Verkehrsrecht zugestandenen Gehwege (Verkehrszeichen 239) von rücksichtslosen Autofahrern rechtswidrig zugeparkt werden. Durch ihre permanente Behinderung steigt der Frust und sehen sich viele dazu gezwungen, sich beim örtlichen Ordnungsamt über dieses ordnungswidrige Verhalten zu beschweren. Da in vielen Fällen dann trotzdem nichts passiert, erstatten nur wenige Bürgerinnen und Bürger Anzeige, um daraufhin ebenso festzustellen, dass auch dann oft keine Rückmeldung der zuständigen Bußgeldstelle erfolgt. Das muss nicht sein, denn die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf eine behördliche Reaktion. Die Rechtsprechung zu diesem Dauerthema ist inzwischen geklärt.

I. Das Recht auf Anzeige als Datenschutzverstoß?

Dazu zunächst ein realer Fall (näher dazu das verlinkte Urteil, aus dem hier teilweise wörtlich zitiert wird):
Ein Bürger übersandte an mehrere Polizeiinspektionen in Bayern wiederholt von ihm gefertigte Fotos von parkenden Pkw oder Lkw zum Zwecke der Verfolgung als Ordnungswidrigkeit. Die Übersendung der Bilder erfolgte über ein Portal für Online-Anzeigen, wie es inzwischen in allen Bundesländern als Bürgerservice im Zuge der Digitalisierung des Staates auf Landesebene und manchmal auch auf örtlicher Ebene vorhanden ist. Laut Beschreibung auf der Plattform können dort Aufnahmen von „Falschparkern“ hochgeladen und nach Beschreibung des Verstoßes per E-Mail an das Ordnungsamt weiterversandt werden. Die Betreiber der Plattform erhoffen sich dadurch die Schaffung sichererer Fuß- und Fahrradwege.
Am 17. Juni 2020 übermittelte der Kläger über die Plattform Aufnahmen verschiedener Fahrzeuge zusammen mit acht schriftlichen Anzeigen festgestellter Verkehrsordnungswidrigkeiten an die zuständige Polizeiinspektion. Auf den Lichtbildern waren die Kfz (sieben Pkw und ein Lkw), die Parksituation sowie die Kennzeichen erkennbar. Die Fotos wurden am 12. Mai 2020, 15. Juni 2020 und 16. Juni 2020 aufgenommen. In den Anzeigen benannte der Kläger die Örtlichkeit des durch ihn festgestellten Verstoßes, sowie die Art des Verstoßes, die Uhrzeit, das Kennzeichen sowie die Farbe und Marke der Fahrzeuge.

Das Kriminalfachdezernat übersandte acht Ereignismeldungen der Polizeiinspektion A. an das Landesamt für Datenschutzaufsicht mit der Bitte um Prüfung in Bezug auf § 43 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG). Es dürfe bezweifelt werden, dass ein berechtigtes Interesse im Sinne des Art. 6 Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) vorliege.
Der Bürger wurde im Folgenden vom Landesamt für Datenschutzaufsicht aufgrund eines Datenschutzverstoßes verwarnt. Die Kosten des Verfahrens wurden ihm auferlegt und die Gebühr für die Verwarnung wurde auf 100 Euro festgesetzt. Der Bürger klagte dagegen vor dem Verwaltungsgericht Ansbach. Als Begründung wurde vom Landesamt für Datenschutzaufsicht unter anderem behauptet, dass der Bürger zwar selbst als Verantwortlicher gemäß § 158 Strafprozessordung (StPO) zur Erstattung von Anzeigen befugt gewesen sein, aber dennoch ein Verstoß gegen den Datenschutz vorliege und überdies als Autofahrer die Erwartung bestehe, im öffentlichen Raum anonym zu bleiben.
Das Verwaltungsgericht Ansbach gab der Klage des Bürgers statt und stellte die Rechtslage klar, indem es dem Landesamt für Datenschutzaufsicht (und damit indirekt auch der anzeigenden Bayerischen Polizei) gleich mehrere juristische Fehleinschätzungen nachwies.

Der Bürger hatte durch die Übersendungen von Aufnahmen verbotswidrig parkender Fahrzeuge an die Polizeiinspektionen nicht gegen das Datenschutzrecht verstoßen. Er hatte ein berechtigtes Interesse daran, eine Ordnungswidrigkeit auch unter Übermittlung eines Fotos an die Polizei anzeigen zu können.
Es besteht gerade kein Anspruch auf Anonymität im Straßenverkehr, vielmehr muss das Kennzeichen eines Fahrzeugs stets gut lesbar (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 3 StVO) und mithin öffentlich zugänglich sein. Ein Fahrzeughalter muss gerade damit rechnen, dass ein mit seinem Fahrzeug begangener Parkverstoß dokumentiert und zur Anzeige gebracht wird. Dass eine solche Anzeige nicht nur durch die Verfolgungsbehörden, sondern auch durch Privatpersonen erfolgen kann, ergibt sich aus § 46 Gesetz über Ordnungswidrigkeit (OWiG) in Verbindung mit § 158 Abs. 1 StPO.

Sehr bemerkenswert ist die folgende Feststellung der Verwaltungsrichter:
„Das „Recht zur Anzeige“, welches nach § 158 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG auch für Ordnungswidrigkeiten gilt, ist Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).“

Damit gibt es ein Grundrecht auf Anzeige rechtswidriger Handlungen, von denen man als Opfer selbst betroffen ist.
Auch das Bundesverwaltungsgericht musste sich im Jahr 2024 mit dem überall in deutschen Städten und Gemeinden grassierenden Problem des Falschparkens auf Gehwegen beschäftigen.
Hintergrund waren ebenfalls Beschwerden von Anliegern, auf deren vor ihren Grundstücken vorhandenen Gehwegen ohne Erlaubnis geparkt wurde und die dadurch massiv behindert wurden. Das zuständige Ordnungsamt der Hansestadt Bremen war trotz fortlaufender Beschwerden untätig geblieben und dies, obwohl die Bürger bereits vor dem Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht in Bremen erfolgreich gewesen sind.
Die Falschparker hatten gegen die folgende Regelung verstoßen:
§12 Abs. 4 Satz 1 StVO
Zum Parken ist der rechte Seitenstreifen, dazu gehören auch entlang der Fahrbahn angelegte Parkstreifen, zu benutzen, wenn er dazu ausreichend befestigt ist, sonst ist an den rechten Fahrbahnrand heranzufahren.

Die Stadtverwaltung in Bremen hatte sich nicht schützend vor ihre Bürger gestellt, sondern vielmehr den Falschparkern die Fortsetzung ihrer Taten gestattet. Das Bundesverwaltungsgericht hat den Bürgern nun eine sogenannte „drittschützende Wirkung des Gehwegparkverbots aus § 12 Abs. 4 und 4a StVO“ zugesprochen, das aber auf den Gehweg beschränkt sei, der auf der „eigenen“ Straßenseite des Anwohners verläuft. Die Hansestadt Bremen wurde dazu verurteilt, erneut über die Anträge der Bürger zu entscheiden, und zwar im Sinne der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts.

II. Die Problemlage

Problematisch ist in den entschiedenen Fällen nicht nur das (verkehrs-)rechtswidrige Verhalten der Autofahrer, die ihnen nicht zustehende Verkehrsflächen zu Lasten der Fußgängerinnen und Fußgänger okkupiert hatten. Dass darin regelmäßig ein vorsätzlich begangener Verstoß zu sehen ist, liegt auf der Hand; denn jeder Autofahrer hat in seiner Fahrschule gelernt, dass zwischen „Fahr“-bahnen und „Geh“-wegen deutlich zu unterscheiden ist, um die betreffenden Fragen in der Theorieprüfung auch korrekt beantworten zu können.

Mindestens so problematisch ist daneben auch die Ignoranz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ordnungsämtern, die betroffene Bürgerinnen und Bürger nicht ernst nehmen: Sie verstoßen dadurch sowohl gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht laut Grundgesetz, als auch gegen deren Petitionsgrundrecht, das in jeder Landesverfassung nachzulesen ist. Es gesteht den Bürgerinnen und Bürgern ein verfassungsrechtlich abgesichertes Recht auf sachliche Prüfung und Bescheidung ihrer Fälle zu.

Eine weitere Problemlage ist der Hintergrund des zögerlichen Verhaltens der Ordnungsbehörden überall in Deutschland. Sie haben nicht genügend Personal für den kommunalen Vollzugsdienst, also für den „Außendienst“, der von fleißigen Politessen, Politeuren und Inspektoren überall in den Kommunen geleistet wird. Dabei wäre es ein Leichtes, dieses Personal einzustellen, weil es sich, bedingt durch die Millionen von rechtswidrig parkenden Autofahrern, finanziell selbst trägt. Dadurch wäre allen geholfen.

Nebenbei sind die Verwarnungs- und Bußgeldbeträge in Deutschland wahre Billigheimer im europäischen Maßstab und gehören dringend vom Bundesministerium für Verkehr erhöht, weil sie ihre mahnende Wirkung auf die Täterinnen und Täter längst verloren haben.

III. Fazit

Es ist richtig, wenn sich betroffene Bürgerinnen und Bürger über die Rechtsverstöße „vor ihrer Haustür“ beschweren, weil sie dadurch zu Opfern willkürlichen Handelns rücksichtsloser Autofahrer werden. Dies sollte noch viel öfter geschehen.
Ordnungsämter sollten die berechtigten Beschwerden ihrer Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen – denn das sind sie ihnen schuldig.

Weiterführende Links:
Verkehrszeichen 239
hier klicken
VG Ansbach, Urteil v. 02.11.2022 – AN 14 K 21.01431
hier klicken
Portal Online-Anzeigen der Bundesländer
https://portal.onlinewache.polizei.de/de/
Portal für kommunale Online-Anzeigen der Stadt Essen
hier klicken
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Falschparken auf Gehwegen
hier klicken
Bußgelder in Europa
hier klicken

Professor Dr. Dieter Müller ist Verkehrsrechtsexperte und Träger des Goldenen Dieselrings des VdM. An der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) lehrt er Straßenverkehrsrecht mit Verkehrsstrafrecht. Zudem ist er Gründer und Leiter des IVV Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten sowie unter anderem Vorsitzender des juristischen Beirats des DVR. An dieser Stelle kommentiert der Fachmann Aktuelles zu Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit und Verkehrspolitik.

Foto: Dieter Müller