Das Phänomen ist altbekannt: Werden verschiedene Zeugen befragt, wie ein Unfall verlaufen ist, kommt es vor, dass unterschiedlichste Versionen von ein und demselben Ereignis berichtet werden. Das ist nicht weiter erstaunlich, haben Menschen doch verschiedene Perspektiven auf einen Unfall und sind auch verschieden involviert, ob als Zeuge oder als unmittelbar Beteiligter, und außerdem haben sie differierende subjektive Maßstäbe zur Beurteilung der Realität. Da nimmt es auch kein Wunder, dass Opfer eines Verkehrsunfalls nicht selten anderes über den Verlauf ihres Unglücks berichten, als was die vom Fahrzeug aufgezeichneten Daten ergeben. Das ist erklärbar, denn für den Menschen ist ein Crash mit Schock, Panik und Angst verbunden, während die Aufzeichnungsgeräte die objektiven Fahrdaten, beziehungsweise einen Teil davon, nüchtern festhalten.
Diesem Unterschied zwischen den Angaben von Fahrzeuglenkern über den Ablauf eines Crashs und den aufgezeichneten Fahrdaten sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Unfallforschungsprojekts von Audi (Audi Accident Research Unit, AARU) und des Universitätsklinikums Regensburg nachgegangen. Ihnen waren immer wieder Unterschiede zwischen den Aussagen der Unfallbeteiligten und den aufgezeichneten Informationen zur Vorunfallphase aufgefallen.
Also begannen sie, Verkehrsunfälle aus psychologischer, technischer und medizinischer Sicht zu untersuchen, um neue Erkenntnisse über Entstehung, Ablauf und die Folgen von Verkehrsunfällen zu gewinnen. Ihr Ziel ist es, durch die Nutzung der gewonnenen Einsichten Unfällen zukünftig zu verhindern oder wenigstens so zu beeinflussen, dass die Folgen für die Beteiligten geringer ausfallen.
Zunehmend kommen in Autos sogenannte „Ergebnisdatenspeicher“ (Event Data Recorder, EDR) zum Einsatz, die ab Juli kommenden Jahres EU-weit in neuzugelassenen Autos vorgeschrieben sind. Diese moderne Variante der Blackbox, deren Vorläufer bereits 1993 von Mannesmann-Kienzle auf den Markt gebracht wurde und wegen ungelöster Datenschutzproblemen für heiße Diskussionen in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen sorgte, soll nach dem Willen der EU-Kommission die Unfallrekonstruktion auf rechtlich sicherere Füße stellen.
Der EDR zeichnet in den letzten fünf Sekunden vor dem Unfall verschiedene Fahrdaten auf und speichert sie, etwa Geschwindigkeit, Lenkwinkel, Brems- und Gaspedal-Stellung, aber auch ABS- und Stabilitätskontrolle. Dadurch sollen Gerichte und Sachverständige in die Lage versetzt werden, einen Verkehrsunfall mittels neutraler Daten wahrheitsgemäß zu rekonstruieren.
Neu ist auch, dass die EDR-Daten durch richterliche Anordnung selbst ohne die Zustimmung des Fahrers, des Eigentümers der Daten, ausgelesen und vom Gericht genutzt werden dürfen. Damit erhalten Unfallexperten neue Einblicke in die Vorunfallphase. Allerdings kratzt dieses Verfahren an der gesetzlichen Garantie, dass kein Beschuldigter Angaben zur vorgeworfenen Tat machen oder gegen sich aussagen muss.
„Unbeabsichtigte Verzerrungen“
Aus früheren Untersuchungen weiß man in der Unfallforschung, dass es bei der „Wahrnehmung des Unfalls, der Speicherung der Informationen im Gedächtnis, dem Abruf dieser Erinnerungen und der Beantwortung von Fragen über den Unfall zu einer Vielzahl von Verzerrungen und Verfälschungen kommen kann“, schreiben Karen Tschech, Thomas Schenk und Stefanie Weber vom Uniklinikum Regensburg und vom AARU in einem Fachbeitrag für die „Zeitschrift für Verkehrssicherheit“. Sie heben hervor, dass diese Prozesse „meist unbewusst und nicht willentlich“ erfolgen.
Untersucht wurden rund 85 Fahrzeuge, die eine Blackbox an Bord hatten und im Zeitraum von 2017 bis 2022 in einen Verkehrsunfall verwickelt waren. Mit den Autofahrerinnen und Autofahrern wurden psychologische Interviews durchgeführt. Dabei folgen die der Wissenschaftler der Frage, ob der angegebene Unfallhergang plausibel ist, wenn man ihn mit den ausgewerteten Daten vergleicht. Es soll insbesondere ermittelt werden, ob sich die angegebene Geschwindigkeit und die beschriebenen Reaktionen unmittelbar vor dem Unglück von dem Bild unterscheiden, das die EDR-Daten zeichnen. Dadurch erhielten die Forscher, wie sie betonen, einen „tiefen Einblick in die Glaubwürdigkeit von Aussagen Unfallbeteiligter“.
Eine erste Analyse ergab Bemerkenswertes. Demnach wichen die Angaben über die gefahrene Geschwindigkeit und über die Reaktionen direkt vor dem Unfall in einigen der untersuchten Fälle so stark von den EDR-Daten ab, dass man fast von unterschiedlichen Unfallhergängen sprechen könnte.
Beate M. Glaser (kb)
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