In keinem europäischen Land kommt man so sicher durch den Straßenverkehr wie in Norwegen. In dem dünnbesiedelten Land mit seinen 5,4 Millionen Einwohnern, in dem es nur eine Hand voll Großstädte und kaum mehr Autobahnen gibt, kamen im Jahr 2020 lediglich 93 Menschen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Das waren erstmals seit 1947 weniger als hundert Getötete in einem Jahr. Die Tendenz ist seit langem fallend: Die Zahl der Verkehrstoten in Norwegen konnte innerhalb von zwanzig Jahren um nahezu 70 Prozent bis 2019 gesenkt werden, und die Zahl der Schwerverletzten ging um über 50 Prozent zurück.
Norwegen ist das einzige Land in Europa, das die von der EU ausgerufene „Vision Zero“, das Ziel von halb so vielen Unfalltoten binnen einer Dekade, überhaupt und wiederholt schaffte – dies gelang in der vergangenen Periode und ganz knapp nur noch Litauen. Während im Durchschnitt von 27 europäischen Staaten jährlich 45 Unfalltote pro eine Million Einwohner zu beklagen sind, zählen die Norweger 17 Unfalltote pro eine Million Einwohner; in der Bundesrepublik kommen jährlich doppelt so viele Verkehrsteilnehmer je Einwohner ums Leben.
Die rot-grüne Regierung in Oslo gibt sich mit dem Erreichten jedoch nicht zufrieden und hält eisern am Grundsatz fest, dass Erfolg kein Grund sei, sich auszuruhen. Also wurde das Ziel ausgerufen, dass ab 2050 kein einziger Mensch mehr bei einem Verkehrsunfall stirbt. Vor drei Jahren gelang dieses ambitionierte Vorhaben erstmalig bei der Altersgruppe der Kinder.
Nach einer Analyse des norwegischen Instituts für Verkehrswirtschaft (TØI) sind es im Wesentlichen drei Gründe, die zu dem hohen Niveau der norwegischen Verkehrssicherheit geführt haben: bessere Straßen, sicherere Autos und niedrigere Geschwindigkeiten. An besonders wirksamen Einzelmaßnahmen nennt das TØI unter anderem 2+1-Straßen (aus zwei- werden dreispurige Bundesstraßen mit abwechselnder Überholspur je Fahrtrichtung), ferner zusätzliche Leitplanken, Rüttelstreifen in der Straßenmitte und die Umwandlung von Kreuzungen in Kreisverkehr. In dem ländlich geprägten Land wurden mehr Zebrastreifen, Fahrradwege und Straßenlaternen installiert sowie überhaupt der Fahrrad- und Fußgängerverkehr auch in punkto Sicherheit aufgewertet. Die Autofahrer setzten jetzt häufiger den Sicherheitsgurt ein und die Fahrradfahrer den Helm auf.
Als Hauptfaktor hat das gemeinnützige Forschungsinstitut die Absenkung der durchschnittlichen Fahrzeuggeschwindigkeit ausgemacht. Ein Resultat von verstärkter Aufklärungsarbeit und infrastrukturellen Maßnahmen bei gleichzeitig härteren Gesetzen und schärferen Kontrollen (in Norwegen gilt Tempo 110 auf Autobahnen). Was für den Einzelfall gilt, gilt auch für das Gesamt: So betont das TØI, dass die „langfristige Verbesserung der Verkehrssicherheit das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren“ sei. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit.
Da herrscht ein anderer Ton
Wer die offizielle norwegische Verkehrssicherheitsarbeit betrachtet und sie mit der deutschen vergleicht, merkt schnell: Da herrscht ein anderer Ton. Ganzheitlicher und bestimmter ist man, überzeugter bei der Sache vielleicht auch. Es geht vornehmlich nicht darum, gut in der Öffentlichkeit dazustehen. Woran das liegt? Es ist das Grundverständnis. Die gesamte Verkehrspolitik der Regierung wird geleitet von der Überzeugung: „Die körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Menschen sind bekannt und müssen Grundlage für die Gestaltung des Straßensystems sein. Das Wissen um unsere eingeschränkte Belastbarkeit im Straßenverkehr und bei einem Aufprall soll die Voraussetzung für die Auswahl von Lösungen und Maßnahmen schaffen. Das Straßenverkehrssystem muß die Verkehrsteilnehmer zu sicherem Verhalten anleiten und sie vor schwerwiegenden Folgen normalen Fehlverhaltens schützen.“ Daraus wird als Konsequenz für die Praxis gezogen, daß Unfälle verhindert werden müssen und unvermeidbare Unfälle nicht zu schweren Verletzungen führen dürfen.
Hier steht der Mensch im Mittelpunkt. Die Verantwortung des Einzelnen wird abhängig gemacht von den Voraussetzungen. Die vernünftig zu gestalten, wird als Aufgabe der Gesellschaft aufgefasst, und genau dafür werden Kräfte mobilisiert und gebündelt: „Die Behörden sind dafür verantwortlich“, heißt es in dem Verkehrsprogramm der Regierung weiter, „ein Straßensystem bereitzustellen, das ein möglichst sicheres Verhalten ermöglicht und vor schwerwiegenden Folgen normalen Fehlverhaltens schützt.“ Die Transportunternehmen werden auf ihrem Gebiet genauso für einen sicheren Verkehr in die Pflicht genommen, wie die Autohersteller verkehrssichere Fahrzeuge „anzubieten, zu entwickeln und zu produzieren“ hätten.
Ein Beispiel unter vielen ist der „Refleksdag“, ein nationaler Aktionstag für Blinkis, die für die Fußgänger und Radfahrer auf dem Land besonders wichtig sind, wenn es, wie so oft in Nordeuropa, dunkel ist. Nach 15 Jahren Refleksdag war erreicht, dass 40 Prozent der Bevölkerung ihren Blinki an Tasche, Jacke oder Hose baumeln haben, wenn sie unterwegs sind. Die kleinen Reflektoren sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Alltags geworden. Der Aktionstag ist geprägt von Mitmachaktionen und Informationsveranstaltungen zur Verkehrssicherheit im ganzen Land, auf der Straße, in Schulen und Kindergärten, in Unternehmen und Verbänden. Wanderausstellungen werden auf die Beine gestellt, und an vielfrequentierten Kreuzungen werden Blinkis kostenlos verteilt, Jahr für Jahr organisiert von der halbstaatlichen Organisation „Trygg Trafikk“ (Sicherer Verkehr), die dafür auseichend finanzielle Mittel erhält und von der Versicherungswirtschaft unterstützt wird.
Kristian Glaser (kb)
Foto: Tromsö-Brücke / Pixabay