Wer im nächsten Jahr eine S-Klasse von Mercedes-Benz kauft, kann eine Fahrfunktion dazu bestellen, die bis Tempo 60 auf der Autobahn alle Fahraufgaben übernimmt. Das hochautomatisierte Fahren hält erstmals Einzug in ein Serienmodell.
Mercedes-Benz erhielt als weltweit erster Automobilhersteller die Genehmigung für ein Serienfahrzeug der Automatisierungsstufe 3. Dabei wird das Fahrzeug selbständig durch bestimmte Verkehrssituationen gesteuert. Der Fahrer braucht sich nicht auf das Geschehen zu konzentrieren, muss aber in der Lage sein, das Lenkrad zu übernehmen, wenn das Fahrzeug ihn dazu auffordert. Diese Zusatzausstattung nennt Mercedes „Drive Pilot“ (Fahrpilot). Sie ist auch für den EQS zugelassen, das vollelektrische Pendant zur S-Klasse.
Das System kann vom Fahrer bei hohem Verkehrsaufkommen oder im Stau bis 60 km/h per Knopfdruck aktiviert werden, jedoch nur auf den derzeit rund 13.200 Autobahnkilometern in Deutschland. Der Fahrpilot regelt dann „Geschwindigkeit und Abstand und führt das Fahrzeug souverän innerhalb der Spur“, erläutert Mercedes die Funktion. „Streckenverlauf, auftretende Streckenereignisse und Verkehrszeichen werden ausgewertet und berücksichtigt. Das System reagiert auch auf unerwartet auftretende Verkehrssituationen und bewältigt diese eigenständig zum Beispiel durch Ausweichmanöver innerhalb der Spur oder durch Bremsmanöver.“ Automatische Spurwechsel oder Überholmanöver sind rechtlich nicht erlaubt.
Bordnetz, Brems- und Lenksysteme sowie die wichtigsten Algorithmen sind doppelt angelegt („redundant“), um im Fall der Fälle den Defekt eines Systems zu kompensieren. Das Fahrzeug verfügt über mehrere Sensoren, darunter Lidar sowie eine Heckkamera und ein Mikrophon, um Einsatzfahrzeuge zu erkennen. Im Radkasten befindet sich ein Nässesensor. Der Fahrpilot wird von einer HD-Karte mit Informationen zur Straßengeometrie, zu Streckeneigenschaften und zu Verkehrszeichen versorgt, mit deren Hilfe auch Unfälle oder Baustellen erkannt werden. Das Kartenmaterial wird mit den Daten der Fahrzeugsensoren abgeglichen und gegebenenfalls aktualisiert. Auf diese Weise bleibt der Fahrpilot auch dann funktionstüchtig, wenn Sensoren zur Positionsbestimmung durch Verschmutzung oder ungünstige Lichtverhältnisse ausfallen, so Mercedes. Dabei kommt ein Ortungssystem zum Einsatz, das im Zentimeterbereich funktioniert und damit leistungsfähiger als übliches GPS ist.
Während der Fahrpilot die Kontrolle über den Wagen ausübt, kann der Fahrer anderen Tätigkeiten nachgehen oder sich ausruhen. Er muss aber jederzeit bereit sein, das Steuer zu übernehmen. Tut er das nicht, weil er zum Beispiel plötzlich ein gesundheitliches Problem bekommen hat oder tief eingeschlafen ist, bremst das System kontrolliert bis zum Stillstand ab, schaltet die Warnblinker ein und aktiviert das bordeigene Notrufsystem, erläutert Mercedes.
Für Markus Schäfer, Mitglied im Vorstand von Daimler und Mercedes-Benz für die Bereiche Entwicklung und Einkauf, ist die erfolgreiche Behördengenehmigung ein „Durchbruch“. Der Fahrpilot markiere einen „radikalen Paradigmenwechsel“.
Die vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) erteilte Typgenehmigung gilt nach offizieller Diktion für ein „automatisiertes Spurhaltesystem“. Der rechtliche Rahmen in Deutschland wurde 2017 auf der Grundlage einer internationalen UNECE-Regelung geschaffen. KBA-Präsident Richard Damm hebt hervor, dass die Verkehrssicherheit der „zentrale Punkt“ sei, um Akzeptanz bei den Verbrauchern herzustellen. „Um dieses Vertrauen zu schaffen, haben wir bei der Typgenehmigung einen strengen Maßstab angewendet“, sagte Damm und betonte, dass auch die Anforderungen zum Schutz vor Hackerangriffen und zur Sicherheit bei Softwareaktualisierungen geprüft worden seien.
EU-Behörde zur Unfalluntersuchung gefordert
Weniger zuversichtlich zeigt sich der Europäische Verkehrssicherheitsrat (ETSC). Er kritisiert, dass die Europäische Union vor der ersten Zulassung eines Level-3-Autos noch kein Aufsichts- und Untersuchungssystem bei Unfällen mit automatisierten Systemen errichtet habe. Der ETSC fordert die Gründung einer EU-Behörde mit genau dieser Aufgabe und dass die Autohersteller verpflichtet werden, alle Kollisionen mit automatisierten Fahrsystemen zu melden. Der Behörde müsse der direkte Zugang zu den Fahrzeugdaten gewährleistet werden, um unabhängige Unfalluntersuchungen vornehmen zu können.
Der ETSC hielte es nach eigener Aussage für „unverantwortlich“, würde die EU dem Druck seitens der Autohersteller nachgeben und die zulässige Höchstgeschwindigkeit für Level-3-Systeme von jetzt 60 km/h erhöhen und die Erlaubnis zu automatisierten Spurwechseln erteilen, noch bevor eine Behörde zur Untersuchung von Unfällen mit autonom fahrenden Autos eingerichtet sei.
Kristian Glaser (kb)
Foto: Mercedes-Benz